Ingolstadt
Der unangepasste Virtuose

Geigenvirtuose, Orchestergründer, Kunstaktivist: Gidon Kremer wird heute 70 Jahre alt

26.02.2017 | Stand 02.12.2020, 18:35 Uhr

Ingolstadt (DK) Eine große Bühne braucht Gidon Kremer nicht. Keinen Frack, kein gewaltiges Publikum, keinen Glanz und Glamour. In schlichtem, schwarzem Hemd steht er da in Deutschlands wohl kleinstem Konzertsaal, der Galerie Pennarz in Gundamsried. Kaum mehr als 35 Zuhörer lauschen, wie er Eugène Ysayes 5. Solosonate spielt, wie er neblige Klänge aus den Saiten schabt, eisige Flageoletttöne und grelle Pizzicato-Einschübe wie das ferne Glitzern von Sonnenreflexionen aufleuchten lässt. Oder in Béla Bartóks Solosonate die Akkorde eruptiv in den kleinen Raum knallen lässt oder rauchige Melodien im Adagio zelebriert. Gidon Kremer ist ein außerordentlicher Geiger, ein Klangkünstler jenseits des Mainstreams. Man kann es kaum glauben, dass dieser immer noch jugendliche, vor Aktivität sprühende Künstler, von dem Karajan gesagt hat, er sei der "beste Geiger der Welt", heute seinen 70. Geburtstag feiert.

Kremer war immer anders als seine Kollegen. Der Begriff Star passt nicht zu ihm. Denn der turbulente Klassik-Kulturbetrieb war ihm niemals wirklich wichtig. Er wollte stets einfach nur möglichst gute Musik machen. Wo auch immer und so häufig wie möglich.

Und seine Musik ist anders als diejenige seiner berühmten Kollegen. Es geht ihm nicht darum, mit geölter Leichtigkeit über die Saiten zu streichen, blitzende Läufe zu produzieren und samtigen Schönklang. Seine Töne sind oft rau und spitzig, manchmal sogar ein wenig zittrig. Natürlich erzeugt er auch mal überirdischen wohlig-warmen Sound - meist will er das aber überhaupt nicht. Wichtiger ist es ihm, mit Musik zu erschüttern, den größtmöglichen künstlerischen Ausdruck zu erreichen, die Suche nach der Wahrheit hinter den Noten.

In dieser Mission ist er bis heute in ungebrochenem Elan unterwegs. Sein Pensum ist enorm. Gerade erst hat er mit seinem Orchester Kremerata Baltica eine Italien-Tournee beendet, demnächst steht eine Reise nach Asien an. Zurzeit arbeitet er an einem Multimediaprojekt zur Flüchtlingstragödie mit Musik von Robert Schumann und Karlheinz Stockhausen, und es stehen Aufritte mit der Pianistin Martha Argerich bevor - etwa am Samstag in Regensburg. Kremer, ein Perpetuum mobile in Sachen Musik.

40 Jahre geht das schon so. In dieser Zeit hat er mehr als 100 CDs aufgenommen mit allen großen Dirigenten der vergangenen Jahrzehnte, von Karajan bis Harnoncourt, von Bernstein bis James Levine, Konzerte von Bach bis Piazzolla, Historisches genauso wie Zeitgenössisches wie die Musik von Alfred Schnittke oder Arvo Pärt. Viele Aufnahmen sind legendär in ihrer ungeschminkten Intensität.

Gidon Kremer, 1947 in Riga geboren, entstammt einer jüdisch-deutsch-baltischen Familie. Sein Großvater und seine Eltern waren Geiger, er selbst begann mit vier Jahren zu spielen. Seine Karriere nahm eher spät so richtig Fahrt auf, als er 1970 den Tschaikowsky-Preis gewann. In den 80er-Jahren verließ er die Sowjetunion und ließ sich in Deutschland nieder. Das reine Musizieren war ihm bald zu wenig, er gründete vor 20 Jahre die Kremerata Baltica, ein Kammerorchester mit Nachwuchskünstlern, und 1981 das Festival Lockenhaus im Burgenland, wo in unkonventioneller Weise einige der weltbesten Künstler ungewöhnliche Programm-Mischungen vortragen. Ein Festival jenseits des kommerzialisierten Musikbetriebs - bis heute ist Kremer diesem Geist treu geblieben. Der Nachrichtenagentur dpa sagte er dieser Tage: "Mich beschäftigt die Musik und nicht all der Blödsinn, der sich drum herum abspielt, auf dem Musikmarkt oder unter Kollegen." Das Bekenntnis eines Antistars.