Ingolstadt
Der Rest ist – Ratlosigkeit

Marco Štorman wagt am Stadttheater Ingolstadt einen radikalen 95-Minuten-Parforceritt durch Shakespeares "Hamlet"

07.12.2014 | Stand 02.12.2020, 21:53 Uhr

Hamlet, Ophelia und Horatio (Béla Milan Uhrlau, Mira Fajfer und Denise Matthey) planen den bewaffneten Widerstand - Foto: Klenk

Ingolstadt (DK) Zeitungsschnipsel. Eine Hand schiebt sie herum. Reißt Wörter aus. Schafft neue Sinnbezüge. Tropft Farbe darauf. Tilgt die Buchstaben. „Europa“ wird mit einem Fingerwischen ausgelöscht. Sätze formen sich: „Etwas ist faul.“ Dann: „Der König ist tot.“ Und: „Was können wir tun“ Eine Pistole wird ins Bild geschoben. Verdeckt die Schlagzeilen. Und beherrscht – weil all das von einer Kamera aufgenommen und riesenhaft übertragen wird auf die Bühnenrückwand – thematisch Raum und Abend. Denn neben der Frage „Was können wir tun“ lauert gleich eine zweite: Ist Gewalt eine Antwort?

Gleich wird er kommen, Hamlets berühmter Monolog. „Sein oder Nichtsein.“ Aber hier ist er ein Dialog, Diskurs zwischen zwei Freunden – Hamlet und Horatio. Ein Abwägen. Ein Argumentieren. „Sterben.“ „Schlafen.“ „Vielleicht auch träumen.“ Sie tragen große Brillen zu blasser Haut. Sie sind jung und ernsthaft. Sie sitzen in ihrem wattigen Wohlstandskokon in einem viel zu großen Schloss – und planen den Widerstand. Den bewaffneten Widerstand. Lassen private Rache – gespeist zunächst aus einem ironischen Gedankenspiel, mehr und mehr aber aus Verzweiflungsfuror – in einen Staatsstreich münden.

William Shakespeares „Hamlet“ hatte unter der Regie von Marco Štorman am Freitagabend im Großen Haus des Stadttheaters Ingolstadt Premiere. Eine radikal verdichtete Fassung für gerade mal sieben Schauspieler. 95 Minuten lang. Mit einem grandiosen Béla Milan Uhrlau in der Titelrolle. Štorman hält sich nicht lange damit auf, den Shakespeare-Klassiker nachzuerzählen. Er konzentriert sich auf diese eine zentrale (wenn auch nicht ganz neue) These: Alles Private ist politisch. Um diesen Kern komponiert er seine Inszenierung, streicht beherzt, bewertet neu, fügt anders zusammen.

Hamlets persönlicher Verlust (des Vaters), die allzu rasche Heirat der Mutter mit dem Onkel und die rücksichtslose Zurschaustellung des neuen Glücks, verbunden mit permanenter Sozialkontrolle durch den Hof und der eigenen Ohnmacht – all das macht den jungen Prinzen wütend. Dann enthüllt ihm der Geist des Vaters die böse Tat: den Brudermord. Hamlets persönliche Welt ist aus den Fugen. Und der Rest – das flirrend-verpixelte mediale Rauschen beweist es – eben auch. Unrecht. Wettrüsten. Tod im großen Stil. Schuld. Hamlet schwört Rache. Vernichtung. Die anfängliche Wahrheitssuche, die vorlaute Rebellion gegen die Elterngeneration wird mehr und mehr zur fanatischen Raserei. Das erste Opfer, die erste Leiche ruft noch Bestürzung, Verwunderung hervor. Danach herrscht Krieg.

Keine Frage: Štormans Interpretation hat etwas. Sie ist klug, radikal, dabei eingängig, lässt sich rasch erzählen und leicht aus der Gegenwart verstehen. Denn natürlich spielt der Regisseur mit Verweisen auf den deutschen Herbst und setzt gegen die Bildästhetik der RAF die Ikonografie des 21. Jahrhunderts (z. B. Pussy-Riot-Masken statt Totenschädel).

Die Jungen – Hamlet, Horatio, Ophelia – bilden hier die schicke Desperado-Gang, eine Studenten-, bald schon Terroristen-WG, wild im Kopf und cool bis ins Herz, die Knarre lässig hinten in Hose oder Unterhose gesteckt, Blutsbrüder, die Shakespeare-Parolen skandieren. Die Alten, das sind die, die für das Machtsystem stehen. In Anzug und Uniform den Status quo bewachen. Treudoof die Europafahne schwenken. Garanten der Stagnation.

Štormans Inszenierung ist kunstvoll gemacht. Sie besticht durch Klarheit, Opulenz, Präzision und ja, auch Komik. Und vor allem – hervorragende Schauspieler. Konzentriert, präzise und mit hoher Energie agieren sie in Frauke Löffels kolossaler Guckkastenbühne, deren Rückwand als riesige Projektionsfläche genutzt wird. Zunächst für die anfängliche Wortklauberei, später für Einspieler aus Kriegs- und Politikgeschehen und schließlich für die „Mausefalle“ im dritten Akt, wenn auf Hamlets Wunsch das Stück im Stück aufgeführt – und so der Mörder entlarvt werden soll.

Ein Höhepunkt der Inszenierung, denn Marco Štorman lässt tatsächlich die „Hamlet“-Verfilmung mit Laurence Olivier von 1948 über die Leinwand flimmern, während sich Mutter und Onkel mit billigen Kronen und Textbuch abmühen, bis sich die Bilder übereinanderschieben. Der Verrat sich auf der Bühne enthüllt. Das ist witzig und erhellend – und technisch ausgeklügelt. Wie überhaupt die Inszenierung ingeniös mit Videotechnik (Stephan Komitsch) umzugehen versteht. Geht es doch auch um Eigen- und Fremdbild, Schein und Sein, Wahrheit und Werbung, Manipulation und Dokumentation, um Big Brother und den Krieg der Bilder. Schwarz-Weiß. Negativ.

Auch der Umgang mit der Sprache: Es ist eine Kunst, die längst geflügelten Worte nicht bildungsbürgerschwer hinauszuposaunen. Vor allem aber die Schauspieler sind nicht genug zu loben. Allen voran der erst 23-jährige Béla Milan Uhrlau, der diesen Hamlet in seiner Unreife und Verletztheit mit solcher Klarheit und Zartheit hinrotzt, der diesen Wahnsinn mit Methode, den die Rolle fordert, so facettenreich, so ironisch spielen kann – irgendwas zwischen Andreas Baader und Einstein Junior –, und diesen gewichtigen poetischen Text (man spielt die Übersetzung von Frank Günther) so unbeschwert heutig sprechen kann, dass man ihm einfach gern zuhört und -schaut. Aber auch die anderen vermögen zu beeindrucken: Matthias Zajgier als alerter Claudius und fordernder Geist von Hamlets Vater, Denise Matthey als Horatio, ein loyaler Geistes- und Waffenbruder, Ingrid Cannonier als puppige Königin Gertrud, Mira Fajfer als Ophelia ohne romantisierenden Kitsch, sondern höchst bodenständig, Thomas Schrimm als hilflos-komischer Polonius und Enrico Spohn als durchgeknallter Laertes – auch wenn sein Spiel mit den Grabgestecken (von DAD zu DEAD) mirakulös bleibt.

Das Bühnengemetzel erspart Štorman dem Publikum. Was sind schon diese paar Toten gegen die abertausenden Opfer des herrschenden Systems. Am Ende steht bei ihm die totale Desillusionierung. Was können wir tun, lautete Hamlets Frage zu Beginn. Gewalt, so viel muss er erkennen, ist keine Lösung. Zumindest keine befriedigende. Und so bleibt am Ende – Ratlosigkeit. Ein kühner Zugriff auf den Stoff. Dass dieser für manch einen zu kurz gegriffen schien, lässt die Reaktion des Publikums vermuten. Denn während es für die Schauspieler – vor allem für Béla Milan Uhrlau – heftigen Applaus gab, fiel der für das Regieteam eher verhalten aus.