Ingolstadt
Das große Schweigen

Atemberaubend: Caro Thum inszeniert Andrew Bovells "Ende des Regens" im Stadttheater Ingolstadt

09.12.2012 | Stand 03.12.2020, 0:44 Uhr

Die großen Rätsel des Menschseins: Szene mit Ingrid Cannonier, Carolin Schär (Mitte) und Sascha Römisch - Foto: Klenk

Ingolstadt (DK) Es sind nur wenige Bruchstücke der Vergangenheit und sie passen in einen Karton: ein paar Briefe, eine Urne, ein Kinderschuh, Diderots „Encyclopédie“ (das bedeutendste Buch der französischen Aufklärung), ein Hut, ein paar Postkarten. Am Ende gibt Gabriel diesen Karton seinem Sohn. „Ich weiß nicht, was all diese Dinge bedeuten.

Es ist nicht viel. Es ist fast gar nichts. Ich weiß nur, dass du irgendwo am Ende dieses Durcheinanders stehst“, sagt er zu ihm. Und um ihn herum sitzen die Geister der Ahnen. Sie wissen um die Bedeutung der Dinge. Und es scheint fast so, als würden sie Andrew, den neuen Besitzer dieses Vermächtnisses, ermuntern, der Sache auf den Grund zu gehen, das Rätsel seiner Herkunft zu lösen. Das Ende – hier ist es ein neuer, hoffnungsvoller Anfang. Und nur der Zuschauer weiß, in welche Abgründe Andrews Suche führen wird.

Ein Mann verschwindet. Ein Junge stirbt. Eine Frau trinkt. Eine andere vergisst. „Das Ende des Regens“ heißt das hoch komplexe Stück des Australiers Andrew Bovell, das sich über einen Zeitraum von 80 Jahren, vier Generationen und zwei Kontinente erstreckt und die beiden Familien Law und York durch ein Geflecht aus Schuld und Schweigen verbindet. Bovell springt in Zeit und Raum hin und her, zwischen 1959 und 2039, zwischen Australien und England. Die Fragmentierung macht die Lektüre schwierig, zumal einige Figuren fast gleichlautende Namen haben und einige von je zwei Schauspielern verkörpert werden. Doch in Caro Thums klarer, kluger, zeichenhafter Inszenierung im Großen Haus des Stadttheaters Ingolstadt lösen sich die Verflechtungen Stück um Stück und enthüllen eine Familientragödie von archaischer Wucht. Wer sind wir? Woher kommen wir? Was macht uns aus? Wie stark wirkt das Erbe der Eltern? Wie frei sind wir wirklich? All diese Fragen verhandelt Bovell in seinem Stück, das wie ein Krimi wirkt und doch viel mehr ist als das. Am Samstagabend war Premiere.

Regisseurin Caro Thum gibt dem Stück auf wundersame Weise eine Leichtigkeit, die es eigentlich gar nicht hat. Behutsam hat sie es decodiert, gestrafft und Bilder, Verknüpfungen, Konstellationen gefunden, die nicht nur dem Zuschauer das Verstehen der Geschichte erleichtern, sondern auch die Strukturen des Textes, seine Motive, seine Sprachmelodie transparent machen. Caro Thum setzt dabei auf eine klare Bühnenästhetik, spielt mit Schwarz-Weiß-Kontrasten, Größenverhältnissen, Raummodellen und hat sich von Wolf Gutjahr eine so eindrucksvolle wie symbolhafte Bühne bauen lassen.

Wie ein Ufo schwebt eine winzige, weiße, seelenlose Wohnwabe über der weit aufgerissenen Bühne, auf deren Boden die Reste der Zivilisation verstreut sind: Türen, Wände, Stühle. Oben: das kleine London, Keimzelle der Geschichte. Unten: Australien, mit seiner unendlichen Weite seit jeher ein Ort für Verbannte. Hier findet die große Sprachlosigkeit des Stücks ihre Entsprechung („Nichts zu sagen zu haben, ist nur eine andere Art von so viel zu sagen haben, dass man erst gar nicht wagt anzufangen.“). Hier ist die perfekte Bühne für paralleles, vielschichtiges Spiel über Raum- und Zeitgrenzen hinweg.

Ein kleiner Fernseher zeigt das aktuelle Jahr an. Sprünge werden mittels Videoprojektionen (Jana Schatz) verdeutlicht: Beatles, Kennedy, RAF, Challenger-Katastrophe, Lady Di oder der Papst – in hohem Tempo wird vor- oder zurückgespult, wird Familien- an Weltgeschichte angedockt. Und auch die aparten Kostüme von Kristopher Kempf geben klare Hinweise auf die jeweilige Spielzeit.

Und dann sind da noch die Schauspieler, die nicht nur allesamt eine hohe Konzentration und Präzision zeigen, sondern auch die komplizierten Familienbande luzide ausformen, Beziehungen offenlegen, miteinander kommunizieren. Mit großer Genauigkeit werden familiäre Eigenheiten kopiert, und gerade die Darstellerinnen-Duos – Victoria Voss und Manuela Brugger als junge und alte Elizabeth sowie Carolin Schär und Ingrid Cannonier als junge und alte Gabrielle – sind in Gesten und Bewegungen perfekt aufeinander abgestimmt. Das ganze Ensemble agiert mit großer Kraft, Anmut und Eindringlichkeit. Und vor allem die Wechselspiele der einzelnen Liebes- und Eltern-Kind-Verhältnisse bergen große Intensität.

Einer der stärksten Momente ist sicherlich die Beziehung zwischen der älteren, dementen Gabrielle und ihrem Mann Joe, die Ingrid Cannonier und Sascha Römisch so schmerzhaft wahrhaftig, so herzzerreißend spielen. Der verzweifelte Kampf gegen das Verschwinden, die Wut über ein falsches Leben, die Bitte um Erlösung – das verstört zutiefst. Aber auch Victoria Voss, Ralf Lichtenberg, Manuela Brugger, Carolin Schär, Anjo Czernich, Ulrich Kielhorn und Enrico Spohn überzeugen und berühren – egal ob Täter oder Opfer.

Obwohl „Das Ende des Regens“ tief greifende Themen wie Schuld, Missbrauch, globale Katastrophen verhandelt, ist es doch kein beschwerlicher Abend. Es geht um das große Rätsel des Menschseins. Und Caro Thum und ihr virtuoses Ensemble erzählen davon mit Poesie, Witz und Fantasie. Nach knapp zwei Stunden gibt es dafür großen Beifall. Also: Unbedingt anschauen!