Ingolstadt
Das Monster weint

Das Nürnberger Figurentheater Salz+Pfeffer gastiert mit "Frankenstein" im Medizinhistorischen Museum Ingolstadt

08.02.2018 | Stand 02.12.2020, 16:50 Uhr

Foto: DK

Ingolstadt (DK) Aus der Kiste quillt Rauch. Wie im Rausch fügen die Puppenspieler aus riesigen Gläsern neue Ingredienzen hinzu: Hautfetzen, Organe, Augen, Pflanzen, Pulver. Dann kommt der Moment, an dem der blutige Klumpen aus der Kiste befreit wird. Herzschlag dröhnt laut. Ein Kopf kämpft sich durch die dünne Eihülle, eine Hand folgt, man hört schweres Atmen, angestrengte Ur-Laute: die Geburt des Monsters.

Aber wie es da zitternd auf der Holzkiste kauert, die Haut wundrot, die Arme, Beine, Finger, Hände mit groben Stichen zu einem menschlichen Körper zusammengeflickt, der Kopf glatzköpfig, Bauch und Oberkörper kindlich gerundet, sieht es gar nicht monströs aus. Es wirkt verwundbar. Es weckt unseren Beschützerinstinkt. Und dabei ist es doch die monströse Ausgeburt eines selbstgefälligen Alchemisten: Victor Frankenstein. Von seinem Schöpfer verstoßen, wird es zum Mörder, zum Ungeheuer, das schließlich an seiner eigenen Abscheulichkeit zugrunde geht.

Mary Shelley war 19 Jahre alt, als sie "Frankenstein oder Der moderne Prometheus" schrieb, den Roman über einen jungen Studenten, der seine Professoren überflügelt und in seinem ungezügelten Forscherdrang eine künstliche Kreatur erschafft, die er nicht kontrollieren kann. Vor 200 Jahren erschien der Roman, und weil die Autorin ihren Protagonisten an der Universität Ingolstadt studieren lässt, ist man hier dem Mythos auf besondere Weise verbunden. Eine Reihe von Veranstaltungen im Jubiläumsjahr zeugen davon. Im Deutschen Medizinhistorischen Museum war am Mittwochabend nun das Nürnberger Figurentheater Salz+Pfeffer mit einer höchst eigenwilligen Bühnenfassung zu Gast. Der Besuch lohnte. Denn Wally und Paul Schmidt, die kreativen Köpfe von Salz+Pfeffer, haben den Stoff in ein Gesamtkunstwerk verwandelt, das alle Sinne anspricht.

Der Clou aber ist die Physiognomie der Kreatur: Denn im Gegensatz zu den feingliedrigen hölzernen Victor- und Elisabeth-Figuren hat der Münchner Puppenbauer Peter Lutz dafür einzelne Körperteile seiner Kinder abgeformt. Weil die unterschiedlich alt und groß sind, hat die Kreatur ein kurzes und ein langes Bein und ungleichmäßige Finger - aber in der ganzen Anmutung (auch durch das Material Latex) wirkt das Wesen wie ein Kind. Mit dem Kopf eines Erwachsenen. Und so wie Wally Schmidt diese Puppe führt, wie sie sie auf die Welt bringt, sie lehrt, sich zu bewegen, zu lesen, ihr Gestammel in Sprache zu kanalisieren, wie sie die Verlorenheit der Kreatur spielt, die Einsamkeit, die Gewalt gebiert, wie sie Trost spendet bis zum Ende - das geht schon ans Herz.

Das Monster steht im Zentrum dieser Frankenstein-Dramatisierung. Und zwar nicht in seiner Schrecklichkeit, sondern in seiner (emotionalen) Unfertigkeit. Was macht das Monster zum Monster? Das impliziert die Frage nach der Verantwortung des Schöpfers und nach den Grenzen des Machbaren. Valentina Scharrer hat aus Shelleys Roman ein kühnes Konzentrat gewonnen, Julian Habryka eine eindringliche Komposition aus zarten Melodien, schrägen Verfremdungen und viel Schlagwerk ersonnen, Florian Schaumberger atmosphärische Videos geschaffen. Und Regisseurin Annalena Maas hat all das in eine spannungsreiche Inszenierung gepackt.

Sie lässt das Ganze im Hobbykeller einer Familie spielen, die dort ihre Fantasien ausleben. Und so spiegelt sich das Machtverhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf immer auch in der Beziehung von Mann-Frau-Kind. Paul und Wally Schmidt kommen mit wenig Text aus. Die Geschichte lebt durch die Figuren, die Bilder, die evoziert werden, die Musik, die Cellist Nico Nesyba mit Verve live performt und die uns mitten in den Kopf der Kreatur führt.

Paul und Wally Schmidt arrangieren ihre Figuren mit viel Liebe zum Detail (sogar Eheringe und rote Herzen gibt es für Victors und Elisabeths Hochzeit). Sie nutzen die wandelbaren Bühnen-Kisten mit Bedacht. Sie setzen auf Kontraste, auf Nähe und Distanz, fokussieren sich auf Kernfragen (Monster: "Was ist Familie? Was ist meine Familie? Warum hast du mich gemacht"). Und schaffen am Ende ein Memento Mori, das uns gemahnt, die Folgen unseres Handelns nie außer acht zu lassen. Ein staunenswerter Abend!