Ingolstadt
Chronik eines angekündigten Todes

Umjubelte Premiere: Mit Falco Blomes intensivem Kammerspiel "Hinterkaifeck" eröffnet das Ingolstädter Altstadttheater die neue Saison

22.09.2017 | Stand 02.12.2020, 17:27 Uhr

Beredtes Schweigen: Tochter Viktoria (Maria Helgath) und Mutter Cäzilia (Adelheid Bräu) haben ein eigenartiges Verhältnis. Ist der Inzest zwischen Vater und Tochter Auslöser für den späteren Mord - Foto: Blome

Ingolstadt (DK) Jeder weiß, wie diese Geschichte endet: mit sechs Toten und vielen Fragezeichen bezüglich des Täters. Denn der Mordfall Hinterkaifeck aus dem Jahr 1922 gehört zu den rätselhaftesten Verbrechen der deutschen Kriminalgeschichte. Warum mussten das Bauernehepaar Andreas und Cäzilia Gruber, deren verwitwete Tochter Viktoria, die Kinder Cäzilia und Josef und die Magd Maria Baumgartner in dieser Nacht des 31. März 1922 sterben? Auch lange nachdem das Anwesen abgerissen und die Ermittlungsakten geschlossen wurden, wurde über Motiv und Täter spekuliert. Wurden Bücher geschrieben, Filme gedreht, für Dokumentationen recherchiert. Viele Fakten, viele Ungereimtheiten, viel schauriges Beiwerk. All das nährte den Mythos. Das Altstadttheater Ingolstadt hat jetzt seine Saison mit einem Stück über Hinterkaifeck eröffnet. Die knapp 90-minütige Premiere am Donnerstagabend wurde mit langanhaltendem Beifall und Bravorufen gefeiert.

Dabei steht für Autor und Regisseur Falco Blome nicht die Suche nach dem Mörder im Vordergrund. Ihn interessieren vor allem die Opfer des rohen Verbrechens und ihre Beziehung zueinander: der gewalttätige Vater, der die eigene Tochter missbraucht und dafür ein Jahr ins Zuchthaus muss, die Mutter, die sich mit dem Inzest arrangiert, der auch nach der Haftstrafe weitergeht, die Tochter, die ihre Macht für sich zu nutzen weiß. Alle drei befinden sich an diesem isolierten Ort Hinterkaifeck in einem eigentümlichen Abhängigkeitsverhältnis, schlichte Gemüter möglicherweise, aber doch höchstgradig manipulativ, eingebunden in starre dörfliche Strukturen und eingeschüchtert eingedenk des göttlichen Zorns. Denn keiner ist hier frei von Schuld. Auch die nicht, die wegschauen.

Falco Blome hat Hintergründe und Theorien studiert und greift sogar auf Originaltexte zurück - etwa aus Ermittlungsakten. Trotzdem findet er für sein Zwei-Personen-Stück einen eigenen Zugang. Sein Stück spielt wenige Stunden vor dem Mord. Draußen heult der Wind, drinnen findet ein Gespräch zwischen Mutter und Tochter statt - das allerhand über die Beziehung zwischen beiden verrät. Denn während die Frauen sich über Spuren im Schnee, Geräusche vom Dachboden, Gott, Geld und Geiz, die neue Magd, den Liebhaber der Tochter, den toten Ehemann, den Vater, das Ansehen im Dorf, die harten Erziehungsmethoden unterhalten, verraten Andeutungen, Zweideutiges, Ungesagtes viel von ihrem problematischen Verhältnis. Tochter und Mutter, Missbrauchsopfer und Mittäterin, Rivalinnen um Mann und Hof.

Höchst intensiv ist das Spiel von Adelheid Bräu als Mutter Cäzilia und Maria Helgath als Tochter Viktoria. Beeindruckend die darstellerische Bandbreite, mit der sie die Unfähigkeit zur Kommunikation zeigen. Zwei Frauen in einer emotionalen Ausnahmesituation. Gefangen in der Enge ihres Denkens. Permanente Überforderung. Schuld, Verbitterung, Furor auf beiden Seiten. Und doch eine merkwürdige Verbundenheit. Zwei Kämpferinnen, bei denen inmitten aller Barschheit plötzlich eine ungeschickte Zärtlichkeit aufblitzen kann. Immer wieder verschiebt sich das Gefüge, trumpft eine auf, zeigt eine Schwäche. Und nun diese Angst - vor einer äußeren Bedrohung oder vor den Folgen des eigenen Handelns?

Berührend ist das, wenn Adelheid Bräu die Mutter in einer Art Singsang-Hospitalismus den schmerzhaften Rosenkranz betet, während Maria Helgath innig-schön das Kirchenlied "O Haupt voll Blut und Wunden" intoniert. Berührend und erschreckend zugleich. Da erzählt sich viel ohne Worte. Unbewusstes. Unterbewusstes. Atmosphärisches.

Immer wieder treten die beiden Schauspielerinnen aus ihren Rollen. Gibt Adelheid Bräu kurzatmig und schwerfällig Lorenz Schlittenbauer, Nachbar der Hinterkaifecker, Liebhaber und (zumindest offizieller) Kindsvater des kleinen Josef, Tatverdächtiger Nummer eins in Mordfall. Und Maria Helgath den Ermittler, der vom Fund der Leichen Tage nach dem Mord berichtet. Immer wieder: Stimmen der Leute, die alles sehen, aber nichts wissen wollen. Gerede um den Inzest und Blutschande, Getuschel um Cäzilias andere tote Kinder, Rechtfertigungsversuche.

Ein spannendes Spiel ist das. Klug hat Falco Blome den Fokus verschoben - von der Mördersuche zum Psychodrama. Und so vorsichtig er Spuren legt, so zeichenhaft ist auch seine Bühne. Im Zentrum das rote Biedermeiersofa, auf dem zu Beginn die Reuthaue liegt. Davor ein Bett. Dahinter ein wuchtiger Schrank, wo Vorräte zwischen brennenden Grablichtern lagern - für die Toten der Vergangenheit und die, die gleich hinzukommen. Nur das Ticken der Uhr durchdringt die Stille, zählt die Herzschläge bis zur Katastrophe.

Der Mörder? Bleibt ungenannt. Falco Blomes "Hinterkaifeck" ist ein archaisches Spiel um Schuld, Verdrängung, Wahr-heit und Angst. Beklemmend und faszinierend zugleich.

Weitere Termine im Altstadttheater am 5., 13. und 27. Oktober, 3. und 25. November und 28. Dezember jeweils um 20.30 Uhr. Karten in allen DK-Geschäftsstellen.