Ingolstadt
Himmlische Goldberg-Variationen

03.06.2011 | Stand 03.12.2020, 2:45 Uhr

Ingolstadt (DK) Musiker lieben es in der Regel nicht, gegen ihre eigene CD-Veröffentlichung anspielen zu müssen. CDs werden unter sehr spezifischen Bedingungen erstellt, es entsteht meist ein klinisch reines, aber manchmal auch etwas temperamentloses Produkt.

Verglichen mit dieser Perfektion sehen viele Künstler beim Live-Konzert im Gespensterkampf gegen die tote CD ziemlich unvorteilhaft aus. Tonkonserven sind allerdings auch noch etwas anderes: Sie sind die Momentaufnahme einer interpretatorischen Wahrheit, deren Gültigkeit begrenzt ist. Irma Issakadze hat jetzt, Jahre nachdem sie die Goldberg-Variationen für Oehms Classic aufgenommen hat, das Stück noch einmal im Konzert gespielt, in der Kirche St. Augustin im Rahmen der Reihe "noli me tangere". Wenn man Aufnahme und Live-Konzert miteinander vergleicht, ist man verblüfft. Nicht die Perfektion allerdings hat spürbar nachgelassen. Denn Irma Issakadze ist eine sehr virtuose Musikerin. Vielmehr hat sich der Charakter ihrer Interpretation grundlegend geändert.

Das wird bereits in den ersten Takten der Aria offensichtlich. Irma Issakadze spielt viel langsamer, ja, fast schleppend, immer wieder lässt sie die Töne nachklappern, zu spät kommen im Verhältnis zur Begleitstimme. Die Töne der Melodiestimme tropfen ganz langsam in den Saal und entfalten eine eigenartige farbenprächtige Schönheit. Die junge Georgierin hält sich wenig an das straffe, sehr irdische Gerüst des Metrums, sondern spielt frei schwingend, klangschön, melodiös. Die Aria bekommt so einen schwebenden, überirdischen Charakter, eine Musik aus einer anderen Welt der reinen Schönheit: himmlische Goldberg-Variationen im Kirchenraum.

Das Prinzip des Primats des Klanges und der Melodie über den harten Rhythmus behält sie das gesamte fast 80-minütige Stück über bei. Nur bei den schnellen, virtuosen Passagen kommt wieder die alte Irma Issakadze zum Vorschein mit ihrem Sinn für kernigen Anschlag und prägnanten Rhythmus – fast wie bei Glenn Gould, dessen interpretatorische Prägung sie ansonsten weit hinter sich gelassen hat.

Natürlich wird Issakadzes Deutung auch von der ziemlich extremen Kirchenraum-Akustik beeinflusst. Das Klavier klingt in St. Augustin immer sehr laut, füllig wie eine Orgel, dynamisch wie ein Orchester. Manchmal fehlt es an Durchsichtigkeit der Stimmen, an filigraner Linienführung.

Dafür ist man überwältigt von der Wucht und von dem Eigensinn dieser sonst so bescheiden auftretenden großen Künstlerin. Einer Künstlerin, die sich tief in dieses in jeder Hinsicht furchtbar schwierige Werk vertieft hat. So tief, dass ihr manchmal das Lustige, das Ironische, das Tänzelnde mancher Variation entgangen zu sein scheint. Aber daran denkt man am Ende kaum noch. Als der letzte Ton verklungen ist, gibt es im Kirchenraum wohl kaum jemanden, der nicht völlig überwältigt ist von der Größe und Intensität dieser Interpretation.