Hannover
Das lebende Kunstwerk

30.03.2015 | Stand 02.12.2020, 21:28 Uhr
Gerngesehener Gast: Timm Ulrichs 2012 bei einem Vortragsabend mit fünf seiner Kurzfilme im MKK Ingolstadt. −Foto: Rössle

Hannover/Ingolstadt (dpa / DK) Vor mehr als 50 Jahren erklärte Timm Ulrichs sein Leben zur Kunst, bis heute verfolgt er diesen Weg kompromisslos. In der Retrospektive zu seinem 70. Geburtstag gab es eine LiveSchaltung vom Kunstverein Hannover direkt in die kaum möblierte Wohnung des Künstlers. Die Ausstellungsbesucher konnten beobachten, wie sich der frühere Professor der Kunstakademie Münster zwischen Papierstapeln, Grafiken und Plakaten bewegte.

An seinem Alltag hat sich fünf Jahre später kaum etwas geändert, auch wenn keine Kamera mehr das Geschehen überträgt. Der selbst ernannte „Totalkünstler“, der am heutigen Dienstag seinen 75. Geburtstag feiert, tüftelt an mehreren Projekten gleichzeitig. „Man muss nach den Sternen greifen, um ein paar Steine in die Hand zu kriegen“, sagt er. Unzählige Entwürfe, Bilder und Skulpturen lagern in seinem Depot in einem alten Fabrikgebäude, das er sich mit Kollegin Christine Möbus teilt.

Der vielfach preisgekrönte Künstler und documenta-Teilnehmer Ulrichs blickt mit Humor und spöttischer Distanz auf die Welt und den Kunstbetrieb. Auf der Messe Art Cologne posierte er einst mit Brille, Blindenstock und einem Schild mit der Aufschrift „Ich kann keine Kunst mehr sehen!“ um den Hals. Denn programmatisch machte er sich selbst zum Kunstwerk: Sei es, dass er sein linkes Augenlid mit dem Wort „The End“ tätowieren ließ (das großformatige Foto mit Film dazu ist eine seiner bekannteren Arbeiten), sei es, dass er zehn Stunden nackt in einem seinen Körperumrissen nachempfundenen Steinblock ausharrte. Bei den Olympischen Spielen 1972 sorgte Ulrichs in einem überdimensionalen Hamsterrad für Aufsehen, täglich absolvierte er in diesem Laufradkäfig die Marathon-Distanz von 42 Kilometern. Egal ob Film, Fotografie, Skulpturen oder Konkrete Poesie – der Vielleser („sechs bis sieben Stunden am Tag“) lässt kaum ein Genre aus. „Die meisten Künstler sind Facharbeiter, die von Bild zu Bild nur kleine Schritte gehen. Für mich ist Kunst Forschung, nicht Warenproduktion. Ich habe nie versucht, ein Markenzeichen zu entwickeln“, sagt der Professor.

Seit den 80er Jahren beschäftigte sich Ulrichs vermehrt mit Kunst im öffentlichen Raum und realisierte in diesem Zusammenhang etwa 2006 die spektakuläre Skulptur „Versunkenes Dorf“ als 1:1-Betonreplik einer Kirche bei Fröttmanning. Der halb von Schutt überwucherte Zwilling steht nur einen Steinwurf vom Original entfernt; die mittelalterliche Kirche ist das Einzige, was von dem früheren Dorf übrigblieb, das nach und nach Reichsautobahn, Kläranlage und schließlich Mülldeponie weichen musste.

Einen Überblick über das Werk des Totalkünstlers war im Dezember 2012 in der groß angelegten Einzelausstellung „Bilder-Finder – Bild-Erfinder“ des Museums für Konkrete Kunst (MKK) in Ingolstadt zu sehen. Dort ist Ulrichs als Stiftungskünstler der Stiftung für Konkrete Kunst und Design, der er ein umfangreiches Werkkonvolut überließ, ein gerngesehener Gast – obwohl seine Arbeiten keineswegs rein diesem Genre zugeordnet werden können. Auch in den großen internationalen Open-Air-Ausstellungen der Stadt Neustadt ein wenig donauaufwärts ist Ulrichs regelmäßig dabei: Seine „Hommage an Mondrian“ machte 2010 auf dem Eininger Weinberg Bienen in rot-weiß-blauen Bienenkästen zu Kunstprotagonisten – und knüpfte an die bekannten Bienenwaben-Wachscollagen an, an denen die Insekten quasi für den Künstler ihre Waben in Bilderrahmen bauten. Und im vergangenen Herbst bestückte Ulrichs als einer von zwölf Künstlern die Schau „Ölspur“ auf dem Bayern-Oil-Raffineriegelände: Sein „Ölfilm“, die auf Videoleinwand übertragene Aufnahme eines von ihm verursachten schillernden Ölfilms auf Wasser, gehörte in ihrer Doppeldeutigkeit zu den schönsten Arbeiten der Schau.