Hamburg
Es werde Klang

Jörg Widmanns gigantomanisches Oratorium "Arche" in der Hamburger Elbphilharmonie uraufgeführt

15.01.2017 | Stand 02.12.2020, 18:48 Uhr

Hamburg (DK) Der erste Ton ist der leiseste, der letzte der lauteste. Dazwischen liegt ein Kosmos, der alles umfassen soll, was mit Musik überhaupt darstellbar ist. Eine Arche Noah der Kultur sozusagen. Ein Manifest der gelebten Gigantomanie. Der Münchner Komponist Jörg Widmann (43) hat mit seinem neuen Oratorium "Arche", das am Wochenende beim zweiten großen Abend in der Elbphilharmonie uraufgeführt wurde, zum ganz großen Besteck gegriffen: Rund 300 Musiker stehen auf der Bühne, unter den drei Chören ist auch die Audi-Jugendchorakademie (einstudiert von Martin Steidler). Es treten Solisten, Kindersänger, eine Glasorgel, unglaubliche Schlagzeug-Batterien und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg auf. Eine solche Besetzung übertrifft die monumentalsten Werke der Musikgeschichte wie etwa die 8. Sinfonie von Gustav Mahler.

Und auch inhaltlich kann alles gar nicht groß und wichtig genug sein. Es geht um die letzten Fragen der Menschheit, natürlich, um die Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments, um das Geheimnis der Liebe und um den Weltfrieden. Dazu hat Widmann Texte aus Tausenden Jahren Geschichte amalgamiert, aus der Bibel, von Matthias Claudius, Heine, Sloterdijk, Nietzsche, Schiller und vielen anderen. Und einmal lässt Widmann den Kinderchor das ganze Alphabet intonieren. Die Welt von A bis Z, das ist der Inhalt des Oratoriums. Mehr geht nicht in rund 90 Minuten Konzertdauer. Die Arche - wegen Überfüllung geschlossen?

Der Anspruch, den Widmann formuliert, ist so ungeheuerlich, dass er eigentlich nur scheitern kann. Denkt man. Aber er scheitert nicht. Noahs Arche ist schließlich auch nicht untergegangen.

Vielleicht liegt das daran, dass Widmann der Versuchung widersteht, ein homogenes Weltbild zu vermitteln. Das Oratorium greift die großen theologischen Fragen auf, aber es beantwortet sie nicht. Es bleibt vieldeutig, im besten Sinne postmodern. Eine Arche der abendländischen Kultur, ein Werk, das Tausende Jahre Kulturgeschichte in sich aufnimmt - aber in ihrer Widersprüchlichkeit.

So ist die Tradition der klassischen Musik in jedem Augenblick spürbar. Es wimmelt von Anspielungen, Übernahmen, Spiegelungen, Umdeutungen. Und ist doch fast immer ganz und gar avantgardistische Musik.

Erstaunlich bereits der Beginn des Oratoriums. "Es werde Licht" heißt es, und Widmann deutet das als "es werde Klang". Blasinstrumente produzieren zischende Laute, kaum hörbares Schnaufen und Stöhnen. Bis der Chor hereinbricht mit grandioser Lautstärke. Anstelle von Rezitativen hat sich Widmann für zwei Kinder als Erzähler entschieden. Die biblische Schöpfungsgeschichte bekommt so eine Anmutung der Reinheit und zugleich der kindlichen Naivität.

Den tiefgründigen Beginn bricht Widmann in der nächsten Nummer sofort: Der Bariton Thomas Bauer singt Heines "Das Fräulein stand am Meere", und das klingt nun plötzlich wie ein modernisierter Richard Strauss - es wogt und walzert. Was für ein Kontrast!

So geht es weiter: Passagen mit Klavierbegleitung, die an Schumann-Lieder erinnern, wechseln mit fast geräuschhaften Wasser-Bildern der Sintflut, es klingt mal nach Bach, dann wieder wie ein Bernstein-Musical. Die Sopranistin Marlis Petersen spielt die aufgeregte Taube, die Noah losschickt, um nach Land zu suchen. Dabei irrt sie durch die Zuschauerreihen. Das ist komisch und auch wunderbar, da die Sopranistin so fantastisch singt. Der Mittelteil des Oratoriums behandelt die Liebe, aber fast mehr noch geht es um Eifersucht, für die Widmann nagende, schwer erträgliche Töne findet. Es gibt ein "Dies irae", aber Widmann vermeidet den brutalen Zugriff der großen Vorbilder Mozart und Verdi. Sein "Dies irae" ist fast leise, bedrohlich, schleichend - vielleicht um Raum zu schaffen, für eine Wende zum Optimismus der Aufklärung, die mit aller Macht über die mehr als 2000 Zuschauer hereinbricht: "Und die Hölle soll nicht mehr sein", singt der Chor. Widmann verarbeitet dabei Beethovens Chorfantasie, die der Komponist später zur "Ode an die Freude" in seiner 9. Sinfonie umformte. Das kommt rauschend pathetisch daher, ein rückhaltloser Hymnus der Euphorie. Der dann übergeht in den Schlussteil in einen fast schon herzzerreißenden Appell für den Weltfrieden. Denn die Unfähigkeit zum Frieden ist vielleicht die tiefste Kränkung und die größte Charakterschwäche des Menschengeschlechts. Widmann findet wieder eine verblüffende Tonsprache: Kinder intonieren am Ende einen Kanon, so rein und tonal, als wäre er von Anton Bruckner komponiert.

Ein bezeichnendes Finale. Denn Widmann bündelt und synthetisiert mit großem Geschick Vorbilder. Aber vor lauter Reflektieren vergangener Größe findet er gerade in den einschneidenden Momenten seines Werks oft keine eigenen Ideen, sondern bedient sich in der Asservatenkammer der Musikgeschichte. Und auch über die Wahl der Mittel kann man nachdenken: Es gibt einen Unterschied zwischen Monumentalität und Genialität.

Eine gelungene und umjubelte Uraufführung eines packenden Werks ist es dennoch - auch wegen der Ausführenden: dem leidenschaftlich und souverän die Massen organisierenden Dirigenten Kent Nagano, dem vorzüglichen Orchester. Der Akustik des Saales, die orgiastisches Orchestertoben ebenso verkraftet wie kaum hörbares Säuseln - auch wenn die Musik an verschiedenen Plätzen im Saal unterschiedlich rüberkommt. Und nicht zuletzt wegen der grandiosen Chöre. Während der Staatsopern-Chor mit purer Kraftentfaltung punktet, die Alsterspatzen einen Hauch von Kindlichkeit verströmen, verblüfft die Audi-Jugendchorakademie (mit Sängern auch aus Eichstätt und Neuburg) durch technische Präzision, jugendlichem Schönklang und Textverständlichkeit. Eine Begegnung - mindestens auf Augenhöhe.