Hamburg
Eine große Aussage groß formuliert

Komponist Jörg Widmann über sein Oratorium "Arche", das heute Abend in Hamburg mit der Audi-Jugendchorakademie uraufgeführt wird

12.01.2017 | Stand 02.12.2020, 18:48 Uhr

Jörg Widmann zählt zu den vielseitigsten Künstlern seiner Generation.

Hamburg (DK) Es ist nicht leicht in diesen Tagen, mit dem Komponisten Jörg Widmann einen Interviewtermin zu vereinbaren. Der Münchner ist noch mehr als sonst ein gefragter Mann. Denn seine bisher größte Komposition wird für die Uraufführung vorbereitet - zur Eröffnung der Elbphilharmonie in Hamburg. Widmann und der Dirigent Kent Nagano haben dafür alles aufgeboten, was klassische Musiker in ihren wildesten Träumen sich nur wünschen können. Selbst die berühmte "Sinfonie der Tausend" von Gustav Mahler wird hier noch in den Schatten gestellt. Solisten, Orgel, das Philharmonische Staatsorchester Hamburg mit einem riesigen Arsenal an Schlagzeugern und drei Chöre werden hart zu arbeiten haben. Mitwirken wird auch die Audi-Jugendchorakademie - speziell angefordert von Nagano. Zum vereinbarten Termin trifft man Widmann umlagert von Musikern.

 

Herr Widmann, Sie werden hier ständig gebeten, Ihre Komposition zu erläutern. Nehmen Sie gerne Einfluss auf die Interpretation Ihrer Werke?

Jörg Widmann: Man versucht natürlich, durch die Notation bereits alles so festzulegen, dass sich alles von selbst ergibt. Aber es gibt immer Fragen. Es gibt einige wesentliche Punkte: Tempi, Übergänge, wie verhält sich von den Proportionen her diese Passage zu einer anderen. Da rate ich dann: Bitte, seid hier ein bisschen schneller, oder, wir gestalten den Übergang etwas anders. Das Gute ist: Kent Nagano und ich kennen uns so gut, wir sind mit Mozarts Klarinettenkonzert so oft aufgetreten, wir haben meine "Babylon"-Oper zusammen gemacht, da können wir uns einfach alles sagen. Das ist absolut vertrauensvoll.

 

Und klingt das Stück so, wie Sie es beim Komponieren erwartet haben?

Widmann: Im Grund ja. Aber das ist nicht selbstverständlich. Es gibt immer einen Rest von Unwägbarkeit, Unberechenbarkeit, der einfach in der Natur der Menschen liegt, die das aufführen. Manches klingt hier fast noch wunderbarer, als ich es mir vorstellen konnte. Unberechenbar war natürlich auch der Audi-Chor, den ich noch nicht kannte. Mit dem Chor habe ich ein Vorbereitungswochenende verbracht. Er ist einfach phänomenal. Jeder Komponist kann sich nur wünschen, von so einem Chor interpretiert zu werden.

 

Waren Sie sofort einverstanden damit, dass der Audi-Chor bei dem Konzert mitwirkt?

Widmann: Anfang 2016 hatte ich mit Kent Nagano ein langes Gespräch darüber. Er kannte den Chor ja schon lange. Dieses Gespräch und auch die Tatsache, dass wir zwei Chöre haben sollten, hat für mich das Stück noch einmal grundlegend verändert. Er hat sehr geschwärmt. Aber ich habe den Chor erst vor einer Woche kennengelernt. Und habe mich sofort verliebt. Martin Steidler hat den Chor unglaublich gut vorbereitet. So kann man sofort über den Ausdruck reden. Wenn man den Musikern nur so einen Gedanken hinwirft, etwa dass das "Dies irae" noch dunkler klingen soll: Dann bekommen Sie das tausendfach zurück, er wird sofort realisiert.
 

Haben Sie gestern bei der Probe den Saal zum ersten Mal erlebt?

Widmann: Ich habe mir den Saal angesehen, bevor ich mit dem Komponieren begann. Das Stück würde anders sein, wenn ich diese Erfahrung nicht gehabt hätte. Es würde wahrscheinlich auch nicht "Arche" heißen.

 

Wohl auch wegen der baulichen Situation?

Widmann: Ja, von innen wirkt er wie ein Schiffsbauch, eine Arche in bewegter See. Das ist auch eine Metapher für die kulturpolitische Situation, in der wir stecken. In bewegten Zeiten. Wir hören viel von Opernhäusern oder Orchestern, die geschlossen oder zusammengelegt werden. Dieser Bau ist ein in die Zukunft gerichtetes Symbol. In meiner Komposition geht es nun auch darum, was von unserer Kultur wir in einer Arche mitnehmen wollen.

 

Steckt deshalb Ihr Werk so voller Bezüge, Zitate und Anspielungen auf die große klassische Musiktradition?

Widmann: Da ist natürlich etwas dran. Aber ich hoffe auch, dass das Stück in einer durchgehenden, eigenständigen Sprache formuliert ist. Dieser die Kultur zusammenfassende Eindruck hat auch etwas mit den zahlreichen, total unterschiedlichen Texten zu tun, die ich verwendet habe. Das geht vom Liebesgedicht und vom Klavierlied bis zum lateinischen Dies-irae-Text. Zudem biblische Passagen über die Sintflut und die Schöpfung. Diese Textsammlung allein ist schon eine Komposition, etwas Zusammengesetzes von Dingen, die auf den ersten Blick nicht zusammengehören. Und da bin ich als Komponist nun gefragt, um alles in eine Arche zusammenzuspannen.

 

Wie sind Sie in unserer sehr säkularen Zeit darauf gekommen, ausgerechnet ein Oratorium zu komponieren? Muss dieses Werk in einem sehr geistlichen, kirchenmusikalischen Sinne verstanden werden? Oder ist es eher ein philosophischer Ansatz?

Widmann: Es ist beides. Es gibt streng liturgische Teile und freie Passagen, etwa über die Liebe. Dieser sehr weltliche Teil bildet das Herzstück des Oratoriums. Das Stück ist so disparat wie unsere Welt. Die ist ja derzeit, auch in einem politischen Sinne, sehr gespalten. Dieser Kampf findet augenfällig auch im Oratorium seinen Niederschlag, etwa in der doppelchörigen Anlage. Mir war die Botschaft dieses Oratoriums sehr wichtig am Schluss das "donna nobis pacem" - gib uns Frieden. Man hat nicht den Eindruck, als hätten wir diese Forderung - "et in terra pax" - heute eingelöst. Wenn es eine Kunstform gibt, die diese Friedenssehnsucht formulieren kann, dann ist es die Musik. Ich glaube sogar, wir haben die Pflicht in unserer Zeit, wenn wir schon eine Chorkomposition zu Papier bringen, dann kann das nur diese Friedensbotschaft sein, die am Schluss steht. Dieser Schlussteil wird dann von einem Kinderchor gesungen.

 

Die Fragen stellte

Jesko Schulze-Reimpell.

 

Jörg Widmanns "Arche" wird heute Abend um 20 Uhr in der Elbphilharmonie in Hamburg uraufgeführt. Es gibt einen Live-Stream bei NDR Kultur.