Geglückter
Der Saal ist der Star

12.01.2017 | Stand 02.12.2020, 18:48 Uhr

Geglückter Eröffnungsabend der Hamburger Elbphilharmonie: Thomas Hengelbrock und das Elbphilharmonie-Orchester ziehen alle Register des Klanges.

Hamburg (DK) Die Elbphilharmonie rast. Sie tobt und donnert. Der Freudengesang, der symphonische Überschwang droht den Saal zu zermalmen. Der Schlusssatz von Beethovens "Neunter" bricht am Ende des Eröffnungsabends wie ein Orkan über die mehr als 2000 geladenen Gäste nieder. Man spürt: Hier wird keine Überzeugungsarbeit für die Akustik des neuen philharmonischen Saals gemacht - hier wird überwältigt mit Klang. Man kann kaum anders, man ist hingerissen von diesem Drive, man erliegt diesem Temperament, der Lautstärke und den schneidenden Spitzentönen von gleich zwei Weltklassechören: dem NDR-Chor und als Gast auch noch dem Chor des Bayerischen Rundfunks. Pure Lautstärke ist manchmal auch ein Argument.

Thomas Hengelbrock, Chef des NDR-Elbphilharmonie-Orchesters, hat diesen Abend gestaltet, und er zieht alle Register, um die Vorzüge dieses Saals zu präsentieren. Das Experiment gelingt - im Großen und Ganzen. Und offenbart doch auch Schwächen.

Es gibt Momente an diesem Abend, die schlechterdings verblüffen. Mit einem geheimnisvollen, wie aus dem Nichts strömenden Klang eröffnet etwa der Hauptteil des Konzertes. Der Oboist Kalev Kuljus spielt das Stück "Pan" von Benjamin Britten. Der weiche Ton füllt mühelos den leicht hallenden Raum, bis zu den feinsten Nuancen ist alles zu vernehmen. Aber der Musiker steht nicht im Orchesterrund, sondern spielt hoch oben im höchsten Rang. Ein Traum der Musik.

Ein ganz anderer Eindruck, wenn gängiges Orchester-Repertoire auf dem Programm steht. Der Schlusssatz der zweiten Sinfonie von Johannes Brahms etwa - ein wahrer symphonischer Finalsatz-Reißer - klingt kraftstrotzend füllig und zugleich fast kammermusikalisch. Auf den ersten Blick scheint das Konzept des Akustikers Yasuhisa Toyota auch hier aufzugehen. Der Anfang wirkt wie geflüstert, die Donnerschläge des plötzlich im Tutti spielenden Orchesters lassen einen fast aufschrecken. Jedes Bläsersolo ist zu hören, der Klang ist gleichermaßen dynamisch und im höchsten Maße analytisch in diesem Saal. Aber, und dieser Einwand wirkt sehr schwer, man hört keineswegs an jedem Platz gleich gut, wie eine kleine Umfrage unter geladenen Gästen und Musikkritikern offenbart. Ich sitze schräg hinter dem Orchester. Und gerade romantische Musik wird an diesem Ort gelegentlich zum Bläserkonzert mit Solopauke, während die Geigen etwas matt im Hintergrund agieren. Gäste vor der Orgel stören sich an einem undefinierten Lüftungsrauschen und an zu harten Orgelklängen. Direkt vor dem Orchester hingegen wirkt die Akustik offenbar optimal und gut austariert.

Die Meriten des Klanges haben viel mit dem Saalkonzept zu tun. Das Architektenbüro Herzog & de Meuron hat sich gegen das Prinzip Schuhkarton und für den Weinberg entschieden. Hier spielt das Orchester nicht vorne, sondern inmitten des Saales, während die verschiedenen Besuchertribünen sich rundherum weinbergartig gruppieren. Diese Saalvariante hat den Vorteil, dass sehr viele Gäste nah am Geschehen sitzen. Der Nachteil ist, dass sie das Orchester nicht immer von vorne wahrnehmen. Aber der Weinberg wirkt auch besonders demokratisch: Man blickt nicht nur auf das Orchestergeschehen, sondern kann auch die anderen Gäste beobachten, die einem gegenübersitzen. Der Weinberg hat indessen unter Akustikern einen schlechten Ruf, weil Messungen ergeben haben, dass der Klang durch die Weite des Raums weniger dynamisch klingt als beim Schuhkarton-Design.

In der Elbphilharmonie wirkt man den Nachteilen entgegen, indem man den Saal, der wie ein riesiges freischwebendes Gefäß in das Gebäude hineingebaut ist, mit steil ansteigenden Rängen versehen hat. So thronen die Gäste über der Bühne. Gleichzeitig hat Toyota, der wohl weltbeste Konzertakustiker, den Saal mit Tausenden korallenartig geriffelten weißen Gipsplatten auskleiden lassen, die den Klang weich brechen sollen. Das Resultat ist verblüffend: Wie kaum in einem anderen Konzertsaal fühlt man sich so, als wenn man mitten im Orchester steht. Der Hauptvorteil lässt sich in wenigen Worten formulieren: die Präsenz des Klanges, die ungeheure Nähe und Unmittelbarkeit des akustischen Ereignisses.

Um diese Vorzüge zu präsentieren, hat Hengelbrock ein eindrucksvolles Eröffnungskonzept realisiert. Die warmen Töne von Brittens "Pan" gehen nahtlos über in die von Henri Dutilleuxs "Mystére de L'Instant", als wenn sie dieses Werk spiegeln wollten. Um dann abgelöst zu werden von den Renaissance-Koloraturen des Countertenors Philippe Jaroussky auf einer Empore mitten zwischen den Gästen. Hengelbrock liebt aber auch die Kontraste, kombiniert zarte Ensemble-Musik von Jacob Praetorius begleitet von einer gut hörbaren Theorbe mit dem musicalhaft krachenden "Furioso" von Rolf Liebermann. Und alles geht ineinander über, von der knallfarbigen Moderne eines Bernd Alois Zimmermann zur pastellfeinen Renaissance und wieder zurück.

Im Zentrum des Konzerts steht die Uraufführung von Wolfgang Rihms "Reminiszenz". Ein Stück eines großen Komponisten, aber sicher nicht das Werk, das an diesem Abend den größten Eindruck hinterlässt. Dazu singt Pavol Breslik, der für Jonas Kaufmann eingesprungen ist, zu eintönig und zudem vollkommen textunverständlich. Rihms Musik mäandert zu indifferent durch den Saal.

Dennoch: ein grandioser Start für einen grandiosen Saal. Immer wieder geht es an diesem Abend um Freude. "Freu dich, Hamburg!", schwärmt Bundespräsident Joachim Gauck etwa beim Festakt. Ja, dieser Saal hat Nachteile, aber er überwältigt auch durch seine Direktheit, die auch Patzer gnadenlos offenlegt. Denn es zeigt sich wieder: Ein wirklich hervorragender Saal verlangt auch nach vorzüglichen Ensembles. Und das NDR-Orchester kann da nicht ganz mit den großen Orchestern in München und Berlin mithalten. Dennoch: Der Einstand ist gelungen. Hamburg besitzt jetzt einen Weltklasse-Saal, einen Konzertraum, der einfach Spaß macht.

 

Eine Aufzeichnung des Eröffnungskonzerts ist am 15. Januar ab 17.40 Uhr auf Arte und am 21. Januar ab 20.15 Uhr auf 3sat zu sehen.