Erlangen
Das Leben der anderen

Mit "Evros Walk Water" macht Rimini Protokoll abstrakte Flüchtlingsthematik spielerisch erfahrbar

28.08.2016 | Stand 02.12.2020, 19:22 Uhr

In Daniel Wetzels inszenierter Konzertanordnung "Evros Walk Water" wird das Publikum zu Stellvertretern der abwesenden Jugendlichen, die aus dem Irak, Afghanistan und Syrien geflohen sind und nun in Athen leben. Das Publikum lauscht ihren Geschichten und folgt ihren Anweisungen. - Foto: Malter

Erlangen (DK) In der Mitte steht ein Schlauchboot. Grün und gelb. Etwa 350 mal 140 Zentimeter. VOYAGER 500. Gedacht für maximal drei Erwachsene. Es ist voll Wasser. In so einem Schlauchboot haben die Jugendlichen den Evros überquert. Das ist der Fluss, der Griechenland und die Türkei trennt. Sie waren allein. Sie hatten Angst. Sie waren auf der Flucht.

Eigentlich hatte Daniel Wetzel, Teil des Berliner Künstler-Kollektivs Rimini Protokoll, den Auftrag für eine Komposition erhalten. "Aber unter dem Eindruck der Verhältnisse in Athen, wo ich zur Hälfte lebe, hatte ich das Gefühl, das ist nicht der Zeitpunkt, an dem die Welt auf etwas wartet, was ich mir vielleicht für drei Celli ausdenke", erinnert er sich. Und so erarbeitete er mit einer Gruppe von Jungen zwischen 9 und 17 Jahren aus dem Irak, Afghanistan und Syrien, die die Bootsfahrt nach Griechenland und folterähnliche Zustände in griechischen Internierungslagern überlebt und in einem Haus für unbegleitete Minderjährige Zuflucht gefunden hatten, dieses Hörstück.

Die Basis bildet dabei John Cages dreiminütige Komposition "Water Walk" aus dem Jahr 1960. Cage nutzt darin Klänge verschiedener Alltagsgegenstände wie Badewanne, Saftmixer, Kochtopf, Blumenvase und Gummiente für eine avantgardistische, musiktheatrale Performance. Für Daniel Wetzel hatte das Stück "eine Offenheit, mit der ich Musik machen und mich gleichzeitig mit dem Thema beschäftigen konnte", und so nutzte er es "wie ein Kommunikationsmedium". Er sprach mit den Jugendlichen, zeigte ihnen das Original-Video - und stieß natürlich auf Befremden, aber auch auf Neugier. Für das Stück ersetzten die Jungen die ursprünglichen Instrumente des "Water Walk" durch solche, mit denen sie von ihrer Flucht und ihrem Alltag in Athen erzählen können. Neben dem Schlauchboot etwa ein Topf mit Steinen, ein (Plastik-)Gewehr, Eisenketten, ein Gong, ein Modell-Ferrari mit Fernsteuerung, eine Gießkanne, das Instrument Santuri. "Es spielt für dich, weil es mich daran erinnert, wie ich meine Mutter verlassen habe - an den Schmerz", erzählt einer der Jungen. Ihre Geschichten sind Teil des "Spiels". Und in den Klängen, die mit den Gerätschaften erzeugt werden, hallen Geschichten von Gefängnis, Gewalt, Verlust nach.

"Das ist unser Konzert", sagt einer der Jungen. "Aber wir können nicht hier sein." Denn das ist die Behauptung: Weil die fünf aufgrund ihrer Situation als "displaced persons" nicht nach Deutschland reisen dürfen, müssen die Zuhörer das übernehmen. "Ihr müsst es spielen", heißt es in dem Brief, der am Anfang noch im Foyer der Glocken-Lichtspiele verlesen wird. "Ihr seid heute die Musiker und wir die Dirigenten. Spielt, wie wir es spielen würden."

Insgesamt 24 Hörstationen sind um das zentrale Schlauchboot aufgebaut. Auf dem Boden eine Weltkarte aus Plastikrasen. Jeder Besucher sucht sich einen Platz, setzt sich einen Kopfhörer auf, lauscht den Geschichten der Jungen. Teilweise wurden sie simultan übersetzt und von gleichaltrigen Schweizer Buben eingesprochen. Teilweise hört man nur das Original, dann hilft ein deutscher Text weiter. Dann ertönt ein Gong und drei Minuten lang wird der "Water Walk" nach genauen Handlungsanweisungen der Jungen vom Publikum ausgeführt. Denn jeder ist Zuhörer und Akteur gleichermaßen. Jemand schießt mit der Spielzeugwaffe in die Luft. Ein anderer gießt Plastikblumen. Eine Pfeife ertönt. Eine Papiertüte platzt. Ein Quietsch-Hai quietscht. Ein Gong wird geschlagen. Sechsmal insgesamt. Sechsmal wechselt man den Platz.

Aber viel spannender ist das, was man dazwischen hört: die Geschichten der Jungen - über ihre Lieblingsmusik, über coole Frisuren, Facebook, Fußball, aber auch über Tod, Angst und Einsamkeit. "Es war mir immer egal, in welches Land ich gehe. Ich wollte nur irgendwohin, wo ich sicher bin", sagt einer. Und ein anderer: "Es gibt eine Nummer in Pakistan. Die Telefonnummer meiner Mutter. Aber seit drei Jahren geht sie nicht ran. Und ich kann sie nicht finden und sie fragen: Was soll ich machen"

Man könnte leicht in die Betroffenheitsfalle tappen, aber weil Daniel Wetzel genau das vermeiden will, hat er einen klugen Weg über das Cage-Re-Enactment und einen ironischen Rollentausch gewählt. Hat die abstrakte Flüchtlingsthematik ganz nah erfahrbar gemacht. Lässt die Jungen dort und das Publikum hier in ein gleichzeitiges fast kathartisches Gelächter einstimmen. Gibt ihnen eine Stimme und fordert uns auf zuzuhören. An den konzentrierten Gesichtern und der Stille, die jenseits des polyphonen Kopfhörer-Gezwitschers zu vernehmen ist, merkt man: "Evros Walk Water" funktioniert - und berührt.

Daniel Wetzel plant kommendes Frühjahr einen zweiten Teil. Denn drei Jugendliche sind kurz nach der Produktion weitergezogen - nach Zürich, Stockholm und Kopenhagen. "Dann geht es darum, dass die, die weggegangen sind, denen, die dageblieben sind, über Skype erzählen, was der Unterschied ist", sagt Daniel Wetzel. "Die, die weggegangen sind, haben nämlich beispielsweise Heimweh nach Griechenland - obwohl die Verhältnisse wirklich fatal sind."