Einmal
Ein Dorf im Ausnahmezustand

03.08.2017 | Stand 02.12.2020, 17:41 Uhr

Foto: DK

Einmal im Jahr fallen Tausende Heavy-Metal-Fans im Dorf Wacken in Schleswig-Holstein ein. Auf den Ausnahmezustand haben sich die Anwohner längst eingestellt: Schließlich profitiert die ganze Region vom Festival.

Wacken (dpa) Klinkerhäuser, manche davon mit Reetdach - Wacken ist ein typisches norddeutsches Dorf. Die Menschen kennen einander und grüßen sich auf der Straße. Und wo jeder jeden kennt, da herrscht ein hoher sozialer Druck, gepflegte Vorgärten zu präsentieren, weil ein ungepflegter Vorgarten auf eine unbehauste Seele verweisen könnte. Auf den Feldern rund um die 1800-Seelen-Gemeinde grasen Holstein-Rinder. Wer die Region nur durchfährt, erhält schnell den Eindruck, dass sie gegenüber Menschen in der Überzahl sind. Doch für ein paar sehr laute Tage im August ist alles anders.

Zum Wacken Open Air, das gestern offiziell eröffnete und noch bis morgen dauert, pilgern regelmäßig Zehntausende Heavy-Metal-Fans in die Region. Deren Populationsdichte schwillt dann gefühlt auf die einer durchschnittlichen Schwellenlandsmetropole an. In vielen Vorgärten werden Bierstände und Imbissbuden aufgebaut.

Zur 28. Auflage des Festivals wurden rund 75 000 Karten verkauft. Die Highlights des ersten Tages sollten die Auftritte von Status Quo, Europe, Accept und Napalm Death werden. Weitere Höhepunkte sind die Konzerte von Alice Cooper, Marilyn Manson und Megadeth.

Die Festivalzeit ließe sich gut als Ausnahmezustand beschreiben. Doch anders als im Katastrophenfall haben sich in Wacken und Umgebung alle darauf eingestellt. Denn der Ausnahmezustand bringt keine Verheerungen mit sich. Er ist ein Konjunkturprogramm. Von der Invasion der Kuttenträger profitieren Region und Menschen.

Wer im Kreis Steinburg während des Festivals Betten anbietet, kann sich vor Buchungsanfragen kaum retten. Und auf dem überschaubaren Straßennetz des Orts entsteht dann - trotz der umfangreichen Straßensperren - ein recht umweltfreundlicher Taxi- und Transportdienst: Schüler transportieren Metal-Fans oder deren Gepäck mit Kettcars von A nach B. Im Gegenzug verlangen sie eine kleine Spende.

Auch Jan (13) und Paul (10) aus Wacken haben ihre Nische gefunden. Mit einem kleinen Handwagen sammeln die Freunde Dosenpfand ein. Auch schon vor dem offiziellen Startschuss - dem Konzert des Wacken-Urgesteins Skyline - gingen sie auf Sammeltour.

Dass der Durst der Wacken-Besucher groß ist, zeigt sich daran, dass allein auf dem Festivalgelände jedes Jahr rund 400 000 Liter Bier getrunken werden. "Die trinken immer früher und immer mehr", sagt Jan, der beim Wacken mittlerweile bereits so ein alter Hase ist, dass er sich gar nicht mehr daran erinnern kann, wann das Festival ihm das erste Mal geholfen hat, sein Taschengeld aufzubessern. Seine These kann der 13-Jährige auch mit Fakten belegen: "Viele basteln mit Klebeband Skulpturen aus den leeren Bierdosen", sagt er. "Normalerweise sieht man das immer erst am Ende des Festivals. Diesmal sind schon vorher ganz viele fertig", sagt er, während im Hintergrund schon wieder neue Metal-Fans mit Rucksäcken eintreffen, begeistert "Wacken" schreien und die Hand zur auch als Metallgruß bekannten "Pommesgabel" in die Luft recken. Den dauerhaften Bewohnern der Stadt ist das ganz recht, besonders denen, die vom Biergeschäft profitieren.

Und noch andere freuen sich über die Besucher: Mücken. Denn davon gibt auf den morastigen Wiesen in der an Niederschlägen reichen Region genug. Auf den Zeltplätzen finden sie plötzlich Nahrung im Überfluss. Dafür gibt es in den Festival-Shops eine Mückenstichcreme mit Wacken-Logo zu kaufen.

Die stoische Gelassenheit, mit der selbst unbeteiligte Anrainer das Metal-Spektakel betrachten, zeigte sich auch bei der Ankunft des Metal-Train in Itzehoe am Mittwochmorgen, eines Sonderzugs mit etwa 500 Metal-Fans an Bord. Zusammen mit Zwergspitzdame Jana beobachtet Rentner Horst Wülfken gespannt das Treiben vor seiner Haustür am Itzehoer Bahnhof. "Die sind friedlich und machen Platz wenn Jana muss", sagt er dazu - und findet, dass damit alles zum Thema Wacken gesagt ist.