Ingolstadt
Die heimliche Oper

25.04.2011 | Stand 03.12.2020, 2:54 Uhr

Ingolstadt (DK) Mit seiner Inszenierung der Matthäuspassion hat Franz Hauk (Gesamtleitung) Großartiges auf die Beine gestellt. Diese erklang am Karfreitag in der Kirche St. Augustin in Ingolstadt. Es musizierten die MünsterVocalisten und der Simon-Mayr-Chor nebst Ensemble.

Hauk dirigiert im Sitzen, steht nur auf, wenn für die Koordination, ob der Komplexität des Werks für Orchester und zwei Chöre, besondere Impulse hilfreich sind. Er führt mit vereinnahmender Gelassenheit vom Cembalo aus, das er nur zu den Rezitativen des lebendig artikulierenden Tenors Felix Schrödinger anschlägt, mit dem die Rolle des Evangelisten optimal besetzt ist. Für die Gesangssoli hat Hauk eine junge Truppe zusammengestellt, die mit unverbrauchtem Charme die biblischen Rollen mit individuellem Leben füllt und den pietistischen Arien unvergleichliche Intensität abgewinnt.
 

Der Bass Thomas Stimmel übernimmt so diametrale Charaktere wie den Verräter Judas und den aufrichtigen aber schwachen Pilatus. Schön musiziert er gemeinsam mit seinem Kollegen, dem stimmkräftigen Andreas Burkhart alias Jesus. Die Alt- und Sopran-Arien werden von Margret Giglinger, Maria Pitsch und Ulrike Malotta stimmungsvoll gesungen. Herausragend die Arie "Aus Liebe will mein Heiland sterben" mit Flöte und zwei Englischhörnern, buchstäblich engelsgleich himmlisch. Voll unbändiger Emotionalität auch die Arie "Erbarme dich, mein Gott, um meiner Zähren willen" von Altus Valer Barna-Sabadus, insbesondere auch wegen Konzertmeisterin Theona Gubba-Cheidze und ihres lebensprallen Geigenspiels.

In seiner historisch informierten und interpretatorisch fantasievollen Umsetzung der größten Passionsmusik der Weltgeschichte scheint Hauk einer bestimmten, von der Musikwissenschaft vorgebrachten These über das Schaffen Bachs anzuhängen. Rein äußerlich ist dessen Musik nicht mehr als ein Stück musikalischer Untermalung des liturgisch düstersten Tags im Jahr. Doch so emotional angereichert und vielgestaltig, so immanent szenisch und interaktional sie noch jenseits all ihrer kompositorischen Raffinesse ausgeführt ist, stellt sie den Sprengstoff für den gegebenen Rahmen dar.

Bachs Matthäuspassion erzählt nicht einfach von der Kraft, die den Vorhang im Tempel zerreißen lässt. Sie ist diese Kraft. Lässt sich die Fülle an Freude, die das Erleben dieser Musik mit sich bringt und ohnehin schon in ironischem Kontrast zu dem aufscheint, was sich als Sinnhorizont des religiösen Anlasses aufsummiert – Sündenbewusstsein, Buße und Reue, Tränen und Klagen, Selbstkasteiung und Entbehrung – lässt sich diese Unmenge an Genuss und Spaß, die so ein von Hauk gestalteter Bachabend mit sich bringt, gerade noch als Vorbote des liturgiegemäß Kommenden deuten?

Es wird unmittelbar verständlich, dass und warum Bach mit seiner Musik damals aneckte, warum er trotz seiner niemals ausschöpfbaren Genieleistung nahezu alleine gelassen wurde und keinesfalls besonders unterstützt wurde von der Kirche. Ja, Bach hätte wohl allzu gerne eine Oper komponiert, doch ließ ihm der Knebelarbeitsvertrag in Leipzig dafür keine Gelegenheit. Also packte er so viele seiner Opernfantasien wie möglich gerade in die Matthäuspassion.

Für seine Ingolstädter Interpretation untermauert Hauk diese These, indem er als scheinbar bloß musikalisches Motto ein gerade in musikalischer Hinsicht nichts Originelles sagendes Zitat des Opernkomponisten Simon Mayr aufnimmt – weil dieses Zitat nichts weiter machen soll, als auf die Idee der Oper zu verweisen und damit Zeugnis abzulegen.