Der
Unerträglich intime Momente

"Ein wenig Leben" löst manchmal fast körperliche Schmerzen aus hat aber eine wunderschöne Sprache

07.07.2017 | Stand 02.12.2020, 17:49 Uhr

Der Titel dieses Buches könnte auch lauten: "Die Leiden des Jude St. Francis". Denn die amerikanische Autorin Hanya Yanagihara lässt in "Ein wenig Leben" ihren Protagonisten fast alles durchleben, was einem Menschen Traumatisches passieren kann: Er wird vergewaltigt, misshandelt, verprügelt, eingesperrt und auf den Strich geschickt. Er hat gesundheitliche Probleme, die ihn letztendlich an den Rollstuhl fesseln. Er ritzt sich, um wenigstens etwas zu fühlen. Sein Suizidversuch scheitert, aber zwei seiner besten Freunde sterben bei einem Autounfall. Das alles erträgt Jude St. Francis. Er akzeptiert es als seine Bestrafung für die schmutzigen Dinge, bei denen er mitgemacht hat - dass er nichts dafür kann, sieht er nicht. Yanagihara erscheint wie eine Sadistin, wenn es um Jude geht.

Dabei beginnt der Roman so heiter: Vier Freunde - Jude, Willem, Malcolm und JB - lernen sich auf dem College kennen. Alle sind anfangs mehr oder minder erfolglos. Jude ist Jurist, Willem Schauspieler, Malcolm Architekt und JB Künstler. Wenige Jahrzehnte später ist aus Jude ein gefürchteter Staranwalt geworden, Willem erhält einen Oscar, Malcolm entwirft international bekannte Gebäude, und JB hat eine gefeierte Ausstellung nach der anderen. Alle vier sind plötzlich - fast schon unrealistisch - erfolgreich. War anfangs der Fokus noch auf den Freunden, verschiebt er sich relativ schnell auf Jude und seine Beziehungen. Der Leser erfährt mit jedem Kapitel mehr über dessen Kindheit und Jugend.

Plätscherte der Anfang des Romans ob der süßen Erfolgsgeschichten dahin, tun diese Episoden fast körperlich weh. Manchmal muss man das Buch zur Seite legen, weil man das Leid und das Leiden nicht mehr aushält. Aber nicht lange, denn die Geschichte fesselt zu sehr. Yanagihara beschreibt plastisch: "Er schnitt sich mehr und mehr; er begann, um die Narben herumzuschneiden, sodass er ganze Keile aus Fleisch entfernen konnte, die mit silbrig schimmerndem Narbengewebe gekrönt waren, aber es half nicht, es reichte nicht." Und der Leser erfährt etwas von seinen glücklichen Momenten, von denen es zwar nicht viele gibt. Alle haben mit seinem besten Freund Willem, der sein fester Freund wird, und seinem Adoptivvater und ehemaligem Professor Harold zu tun.

Ja, der Roman hat fast 1000 Seiten. Ja, der Fokus liegt fast ausschließlich auf Jude, und man durchlebt fast 1000 Seiten lang seinen Schmerz - und hat deshalb auch manchmal seine Längen. Aber: Yanagihara schreibt Sätze - die hervorragende Übersetzung stammt von Stephan Kleiner -, die man sich einrahmen möchte, wie: "Freude, Ausgelassenheit: Das mussten sie von Neuem lernen, mussten sie sich von Neuem verdienen. Aber die Angst würden sie nie von Neuem erlernen müssen; sie würde in ihnen Dreien leben als eine Krankheit, die sie miteinander teilten, ein schillernder Strang, der sich ungefragt in ihre DNA eingewoben hatte." Diese schöne Sprache entschädigt für die Längen. ‹ŒDK

 

Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben. Hanser Berlin, 960 Seiten, 28 Euro.