Der Gesetzlose

11.11.2013 | Stand 02.12.2020, 23:26 Uhr

 

Es ist eine Frau ohne Namen, der Bob Dylan in „She Belongs To Me“ huldigt: Sie könne, so singt er, der Nacht das Dunkel nehmen und den Tag schwarz anmalen. Und nein, das Gesetz könne ihr nichts anhaben. Denn sie sei eine Künstlerin, sie blicke nicht zurück. „She’s an artist, she don’t look back.“ 1965 sang er dieses Lied zum ersten Mal, und alles, was seither geschah, legt den Verdacht nahe: Hier charakterisiert sich einer selbst – ein Gesetzloser, ein Künstler, der nie zurückschaut. Jedes Album ein neues Abenteuer, jedes Konzert Teil einer nicht enden wollenden Tour und doch stets ein solitäres Ereignis. Weiter, immer weiter.

Da mutet es fast schon paradox an, dass jetzt in einer schmucken Box das Lebenswerk Dylans erscheint: 35 Studio-Alben, sechs Konzertaufnahmen und eine Singles- und Raritätensammlung auf insgesamt 47 CDs, „The Complete Album Collection“ betitelt. Paradox auch, weil der Künstler seine Alben nie so akribisch konzipiert und produziert hat wie viele seiner Kollegen. Eher waren es Momentaufnahmen, geprägt von Zufälligkeiten, wer gerade greifbar war als Musiker, als Produzent, als Tontechniker. Erst in den letzten zehn, 15 Jahren hat sich diese Attitüde ein bisschen gewandelt. Doch auch da blieb das Prinzip stets das Gleiche: Kaum war die Platte aufgenommen, war Dylan längst wieder woanders.

Rückblende ins Jahr 1961: Am 24. Januar, einem eisig kalten Wintertag, kommt der damals gerade 19 Jahre alte Herumtreiber aus Hibbing/Minnesota nach New York. Mit dem festen Vorsatz, sein Idol Woody Guthrie im Krankenhaus zu besuchen und als Folksänger in den Clubs und Kaffeehäusern des Greenwich Village zu Ruhm und Ehre zu kommen. Dylan tritt im „Café Wha“ auf, im „Gaslight Café“, in „Gerde’s Folk City“, wo er John Lee Hooker begleitet, arbeitet gelegentlich als Sessionsmusiker und fällt dabei dem Produzenten John Hammond auf. Der besorgt ihm einen Plattenvertrag und über Nacht fand sich der Jungstar im Studio wieder, wo er binnen zweier Nachmittage, alles in allem innerhalb von sechs Stunden, sein Debütalbum einspielt. Sein Repertoire: elf Folk- und Bluesklassiker sowie zwei eigene Stücke, „Talkin’ New York“ und „Song To Woody“. Die Folk-Gemeinde horchte auf, doch keiner rechnete mit dem, was dann geschah – nicht weniger als eine musikalische Revolution nämlich.

In deren Verlauf wurde Dylan zum „Sprachrohr einer Generation“ ausgerufen, zum „Rädelsführer der Gegenkultur“, der dem verhassten Establishment ein höhnisches „the times they are a-changin’“ ins Gesicht schleuderte. Die Pointe bei dem Ganzen: Dylan selbst konnte mit den Etiketten, die man ihm aufklebte, nicht das Mindeste anfangen. „Ich ist ein anderer“, pflegte er – Rimbaud zitierend – zu murmeln. Und tat nur das, wonach ihm der Sinn stand: Elektrisch verstärkte Musik spielen, beispielsweise – auf den Alben „Bringing It All Back Home“, „Highway 61 Revisited“ und „Blonde On Blonde“, jenen drei Mitte der 60er Jahre veröffentlichten makellosen Meisterwerken. Derweil die enttäuschte Fan-Gemeinde, die wieder und wieder nur „Blowin’ In The Wind“ zur Akustikgitarre hören wollte, lauthals „Judas!“ schrie.

Er spielte Country in einer Zeit, in der es keine uncoolere Musik gab als Country. Er verwirrte seine Zuhörer, indem er seine klassischen Songs plötzlich im Reggae-Modus spielte, in Big-Band-Arrangements kleidete oder in Hardrock-Manier über sie hinwegdonnerte. Als er Ende der 70er dann auch noch das Christentum für sich entdeckte, hatte er endgültig auch die Wohlmeinendsten verprellt. Gotteslob vom Wortführer der populären Musik? Viele wandten sich mit Grausen ab und überhörten, dass die drei Alben seiner religiösen Phase – „Slow Train Coming“, „Saved“ und „Shot Of Love“ – zumindest phasenweise wunderbare Musik enthielten.

Doch Dylan machte unbeirrt weiter – wurde wieder weltlicher, scheiterte aber mit Alben voller überkandideltem 80er-Jahre-Kitsch, brachte sich Anfang der 90er mit Blues- und Folk-Klassikern in Erinnerung. 1997 schließlich, nach einer lebensbedrohlichen Erkrankung, erschien jener grandiose Songzyklus, der gleichsam als Beginn seines Alterswerks gelten darf: „Time Out Of Mind“. Seither scheint Dylan jenseits von Zeit und Raum zu existieren, veröffentlicht regelmäßig neue Musik, gibt rastlos Konzerte im Rahmen der von Mythen umwobenen „never ending tour“. Bob Dylan ist 72 Jahre alt. Und er blickt immer noch nicht zurück.

 

Bob Dylan: The Complete Album Collection Vol. One (Columbia/Legacy/Sony); ca. 150 Euro