Demontage einer Rächertragödie

26.05.2008 | Stand 03.12.2020, 5:53 Uhr

Theater auf dem Theater: Hamlet (Gregor Henze, links) und die Königsfamilie sehen fasziniert den Schauspielern zu. - Foto: Heinritz

Ingolstadt (DK) Er ist gefangen in diesem Schloss aus Eis, in dem die Zeit stillzustehen scheint. Hamlet ist ein Gefangener seiner selbst. Kraftlos verfolgt er im kalten Kokon die Vorgänge in der Familie: den plötzlichen Tod des Königs, seines Vaters, die rasche Vermählung seiner Mutter mit dem Onkel. Hamlet ist müde. Ein träger Träumer. Als er sich endlich zu Rebellion und Rache entschließt, besiegelt er sein eigenes Verderben und reißt alle mit in den Tod. Christian von Treskow (Foto) hat William Shakespeares 1603 erschienenes Stück sehr pointiert, in einer klaren Bildsprache und einer eigenwilligen Lesart auf die Bühne des Theaters Erlangen gebracht – mit einem phänomenalen Gregor Henze in der Titelrolle. Unsere Redakteurin Anja Witzke sprach mit dem Regisseur (40) über die Inszenierung, die morgen um 19.30 Uhr im Rahmen der Bayerischen Theatertage im Großen Haus zu sehen ist.

"Hamlet" ist wohl eine der bekanntesten Tragödien von William Shakespeare. Warum ist sie bei Ihnen so komisch

Christian von Treskow: Im Prinzip ist die Inszenierung gar nicht komisch. Man lacht zwar viel. Aber man lacht nicht über die Komik, sondern über die Verzweiflung der Figuren und die Schwärze der Situation.

Was hat Sie überhaupt an dem Stück gereizt

Von Treskow: Es ist die Tragödie des radikalen Individualismus. Das Stück, das das Individuum als solches und seine Auflösung am extremsten beleuchtet. Die Auflösung des Individuums geht dabei einher mit der formalen Auflösung des Stückes. Sie erinnern sich: Das Stück fängt normal an. Es scheint eine gewöhnliche Fabel zu geben und eine durchgehende Handlung. Aber je weiter das Stück fortschreitet, des-to mehr Ungereimtheiten treten auf. Anscheinend hatte der Autor selbst größte Mühe, diese Geschichte so zu Ende zu bringen, wie er sie zu Beginn intendierte. Also: Man sieht bei der Demontage einer Rächertragödie zu, während man – auf einer anderen Ebene – der Selbstauflösung der involvierten Figuren beiwohnt.

Sie haben das Personal stark reduziert. Lassen Sie die Schauspieler auch deshalb in Doppelrollen auftreten, um diese Selbstauflösung noch stärker zu betonen

Von Treskow: Zum einen hat die Reduzierung damit zu tun, dass das Erlanger Ensemble sehr klein ist. Zum anderen wollten wir uns aber extrem abgrenzen von der politischen Fabel, die auch im "Hamlet" steckt. Uns hat ausschließlich das Privatistische interessiert – diese psychopathologische Familienkonstellation. Und die Familie ist ja nicht so groß: Onkel, Mutter, Kind – und die Spiegelung auf der Polonius-Ebene: Vater, Sohn, Tochter. Dann gibt es noch Hofpersonal wie Horatio oder Rosenkranz und Güldenstern. Mehr braucht man nicht, um die Geschichte zu erzählen.

Von kaum einem Stück kennt man so viele Zitate: "Sein oder Nichtsein", "Etwas ist faul im Staate Dänemark", "Schwachheit, dein Name ist Weib!" – das Publikum wartet geradezu auf diese Textstellen. Erschwert das die Arbeit beim Inszenieren

Von Treskow: Ich habe unmittelbar davor den "Ur-Faust" inszeniert, und da ist es noch viel schlimmer. Da findet sich ein Sammelsurium an goldenen Lebensweisheiten. Bei "Hamlet" kann man es sehr gut ausblenden.

Den berühmten Monolog "Sein oder Nichtsein" lassen Sie im Chor sprechen.

Von Treskow: Natürlich muss man sich für diesen Monolog etwas einfallen lassen. Aber diese Lösung ist auch konzeptionell abgesichert. Denn das Drama des Individualismus wird durch das chorische Prinzip konterkariert. Wir haben uns für ein Kostümbild entschieden, in dem alle, die in diesem Familienzusammenhang stecken, das Hamlet-Schwarz tragen. Eigentlich haben alle ein Hamlet-Problem. Sie wissen nicht, wer sie wirklich sind. Was in dem Monolog beklagt wird, geht alle an. Es ist im Übrigen gar nicht gesichert, dass dieser Monolog "Sein oder Nichtsein" zum originalen Textbestand des Hamlet gehörte. Möglicherweise wurde er später eingefügt. In mehreren überlieferten Fassungen findet er sich an verschiedenen Stellen. Er wirkt wie ein freies Radikal im Stück. Er passt eigentlich nirgendwo hinein. Deshalb habe ich ihn an den Anfang des zweiten Teils gesetzt und von allen sprechen lassen, weil er jede Figur im Stück gleichermaßen angeht.

Heute bekommt man im Theater oft Klassiker im Häppchen-Format geliefert. Sie zelebrieren – der Begriff ist durchaus positiv gemeint – den "Hamlet" in drei Stunden reiner Spielzeit.

Von Treskow: Wir haben etwa 50 Prozent des Originaltextes gestrichen. Aber man vermisst nichts, weil es nicht mehr bedarf, um die Geschichte zu erzählen. Wir haben ganze Szenenfolgen umgestellt, neue Situationen erfunden – und uns von Marc Pommerening sogar Texte dazuschreiben lassen. Aber diese ganze Textarbeit fällt nicht so auf, weil sie nicht in den Vordergrund gestellt wird. Die Spielzeit beträgt übrigens genau zwei Stunden und 50 Minuten. Ich finde, das ist das Minimum, das dieser Text benötigt, um sich entfalten zu können. Eine Reader’s- Digest-Fassung kann ich mir da nicht vorstellen. Man muss den vermeintlichen Zuschauerbedürfnissen nicht hinterherlaufen. Ich glaube nicht, dass sich das Publikum selbst nach einem Acht-Stunden-Arbeitstag auf einen längeren Theaterabend nicht konzentrieren kann. Da muss man mal den Gegenbeweis antreten.

Ihre Inszenierung ist auf verblüffende Art klassisch und verfügt doch über eine vorwitzige Modernität. War dieser diffizile Balanceakt von Anfang an so geplant

Von Treskow: Ja, es ist eine ganz kalkulierte Wirkung. Wir haben uns überlegt, wodurch der Eindruck einer "werktreuen Inszenierung" – ich mag den Begriff eigentlich nicht, denn jede Inszenierung ist immer Interpretation – entsteht und wie Regietheater rezipiert wird. Dabei ging es uns nicht um die tieferen Strukturen der Inszenierung, sondern erst mal nur um die Oberfläche. Wir haben ganz bewusst mit der Form gespielt, mit dieser scheinbaren Klassizität. Wir wollten eine Benutzeroberfläche schaffen, die es dem Zuschauer ermöglicht, sich ohne allergische Abstoßungsreaktionen (er lacht) mit dieser doch ziemlich radikal modernen Fassung des "Hamlet" zu beschäftigen.

Das Theater Erlangen zeigt "Hamlet" am morgigen Mittwoch um 19.30 Uhr. Bereits um 18.30 Uhr gibt es im Foyer ein Gespräch mit Regisseur Christian von Treskow und Intendantin Sabina Dhein.