Improvisierte Mörderjagd

23.02.2017 | Stand 02.12.2020, 18:36 Uhr

Einen Mord im Theater müssen die Ludwigshafener Ermittler aufklären. Mario Kopper (Andreas Hoppe, hinten) hat diesmal nur einen kurzen Auftritt und flieht dann nach Italien.

Ludwigshafen (dk) Mit „Babbeldasch“ zeigt die ARD am Sonntag den ungewöhnlichsten Film in der „Tatort“-Geschichte. Alles ist improvisiert und das Ensemble besteht – außer dem Ermittlerteam um Ulrike Folkerts – nur aus Amateuren.

Seit 1970 lockt der "Tatort" im Ersten. Er ist längst Kult, hat Ermittler-Legenden wie Schimanski hervorgebracht, für Lolita-Skandale ("Die Reifeprüfung"), Polit-Aufreger ("Wem Ehre gebührt") und Leichenrekorde ("Im Schmerz geboren") gesorgt. Fast nichts, was es in den über 1000 Krimis der Reihe nicht gab. Doch einen "Tatort" ohne Drehbuch - das gab es bisher noch nie. "Babbeldasch" heißt er, geht ganz neue Wege - und das ausgerechnet mit der dienstältesten Kommissarin der Reihe: Ulrike Folkerts ermittelt als Lena Odenthal bereits seit 1989.

In diesem "Tatort" ist nicht nur die Tatwaffe sehr ungewöhnlich. Dabei handelt es sich um Mohn. Und der lauert im Schokocroissant. Das kleine Ludwigshafener Mundart-Theater Babbeldasch feiert sein 30-jähriges Jubiläum. Gespielt wird "Die Oma gibt Gas", eine Komödie auf Pfälzisch. Im Mittelpunkt: Sophie Fettèr (Marie-Luise Mott), Hauptdarstellerin und Prinzipalin des Theaters. Unter den Gästen ist auch Kommissarin Odenthal.

Während der Vorstellung stirbt Sophie an einem allergischen Schock. Das Ensemble ist entsetzt, die Aufführung wird abgebrochen, die Besucher nach Hause geschickt. Tags darauf entdeckt man, dass das Croissant, das Sophie aß, zusätzlich mit Mohnmasse gefüllt war. Es war Mord. Aber wer wusste, dass die beliebte Theaterleiterin allergisch auf die Samen reagieren würde? Bäcker Oehlenschläger gerät unter Verdacht. Johanna Stern (Lisa Bitter) übernimmt den Fall, da ihre Kollegin Odenthal Überstunden abbummeln soll. Doch Lena beginnt, undercover zu ermitteln. Unter den Theaterleuten herrschen Trauer und Bestürzung, alte Feindschaften brechen auf. Sophie mischt weiter mit, sie erscheint Lena im Traum und verlangt von ihr, ihren Mörder zu finden.

 So weit die Geschichte dieses Krimis. Die Idee zum Plot, der ein wenig an den Miss-Marple-Klassiker "Vier Frauen und ein Mord" erinnert, hatte die SWR-Fernsehfilmchefin Martina Zöllner. Als Pfälzerin kennt sie das volkstümliche Theater Hemshofschachtel, und die Zusammenarbeit mit dem als "anarchistisches Wunderkind" gefeierten Regisseur Axel Ranisch gehört für sie zu einem Modernisierungskonzept: "Ich möchte in unseren Produktionen ein lebendigeres, authentischeres Sprechen etablieren", sagt sie, "an Ranischs Filmen gefällt mir besonders, dass sie sehr poetisch, aber auch sehr realitätsnah und milieugetreu sind."

Milieugetreu ist dieser "Tatort", denn er spielt zu weiten Teilen in einem echten kleinen Theater, dem hier nur der Name "Babbeldasch" - also Labertasche oder Plappermaul - verpasst wurde. Die Besetzung besteht - außer dem bekannten Ermittlerteam - ausschließlich aus den Mitgliedern des Ludwigshafener Laientheaters. Dass hier authentisch gesprochen wird, ist unüberhörbar. Der pfälzische Dialekt dominiert, Folkerts gefällt es: "Das versteht man wahnsinnig gut, wir werden da auf keinen Fall Untertitel druntersetzen". Doch für den Betrachter ist es äußerst gewöhnungsbedürftig.

Axel Ranisch, der von Kritikern hochgelobte, aber im Kino nicht gerade üppig erfolgreiche Filme wie sein Debüt "Dicke Mädchen", die Coming-Out-Geschichte "Ich fühl mich Disco" und zuletzt die Grimme-Preis-nominierte Tragikomödie "Alki, Alki" gedreht hat, bezeichnet sich bei seinem "Tatort"-Debüt nicht als Regisseur, sondern als Spielleiter. Das trifft es wohl, denn Ranisch arbeitet mit einem Ensemble, dessen Mitglieder größtenteils Variationen ihrer selbst spielen und Text improvisieren. Es gab keine fest formulierten Dialoge, nur ein rudimentäres Drehbuch. Erst kurz vor dem Dreh einer Szene erfuhren die Akteure, was grob passieren würde. Spontan mussten sie auf das Gesagte ihres Gegenübers reagieren, entsprechend authentisch wirkt das gefilmte Geschehen.

Zudem wurden die Szenen chronologisch gedreht, sodass niemand vor der Kamera wusste, wie sich die Story entwickeln würde - und wer der Täter oder die Täterin ist! Das hat seinen Reiz, der sich in manchen Szenen auch vermittelt, wirkt durchaus authentisch und sympathisch. Zumeist kommt das aber hölzern und stellenweise auch dilettantisch rüber. Dass auch Profis bei der Improvisation an ihre Grenzen stoßen, wird bei der Szene im Kommissariat deutlich, wenn Kopper (der flieht in diesem "Tatort" übrigens nach einem kurzen Auftritt gen Italien), Frau Stern, die Odenthal und Sekretärinnen-Seele Keller sich am Tag nach dem Mord aus der Zeitung informieren - mit abgenudelten Sätzen wie "Die Presse übertreibt doch immer".

Man muss den Film als experimentellen Spaß sehen, als einen Krimi, in dem quasi live ermittelt wird. Denn selbst Ulrike Folkerts wusste bis zum Finale nicht, wer die nette Sophie gemeuchelt hat. Doch das Problem liegt darin, dass die Geschichte äußerst dünn ist und sich mühsam dahinschleppt. Gefühlt dauert dieser "Tatort" drei Stunden, man ertappt sich des Öfteren dabei, auf die Uhr zu blicken, statt der Aufklärung entgegenzufiebern.

Filmisch hat "Babbeldasch" aber seine Reize. Er wurde mit Handkameras und in 360 Grad gedreht, um so ganz im Sinne der Improvisation alle Ereignisse und Reaktionen einfangen zu können. Das wird am besten deutlich bei der Szene, als Sophie beerdigt wird, ihre Tochter am Grab auftaucht und die Kamera einfängt, wie das Ensemble sich verhält. Neben der realen Ebene spielen Lenas Träume eine große Rolle. "Trotz meines großen Bedürfnisses nach Glaubhaftigkeit und Realismus, vor allem im Schauspiel, liebe ich die fantastischen Momente des Lebens. Ich liebe den Kontrast zwischen Traum und Realität, zwischen Tag und Nacht", sagt Axel Ranisch. So taucht die Kommissarin regelmäßig ein in eine bunte Traumwelt, die tote Sophie erscheint ihr, und auch ihr Team verfolgt die Kommissarin - sogar bis zum Finale auf der Bühne.

Eine "Kriminaloperette ohne Gesang" nennt Ranisch seinen ersten "Tatort". Durch die Improvisation sollen größere Möglichkeiten für spielerische Momente geschaffen werden. So die Idee. Doch anders als bei dem preisgekrönten ARD-Projekt "Altersglühen - Speed Dating für Senioren", in dem Jan Georg Schütte auch ohne festes Drehbuch gearbeitet hat und die Akteure (von Senta Berger bis Mario Adorf) auf höchstem Niveau improvisiert haben, sind hier eben Laien am Werk - und das sieht, hört und spürt man in nahezu jedem Moment.

So bleibt, den Mut zu loben, neue Wege beim "Tatort" zu gehen, zu experimentieren, mit den Mitteln der Improvisation zu arbeiten. Spaß hat es den Akteuren gemacht, auch wenn Ulrike Folkerts bekennt: "Ich habe mich mitunter wie auf der Schauspielschule gefühlt." Auch die Verantwortlichen beim SWR sind offenbar mit dem Ergebnis zufrieden, denn der zweite Axel Ranisch-"Tatort" - wieder ohne Dialogvorgaben und mit dem Arbeitstitel "Waldlust" - ist schon abgedreht und wird 2018 im Ersten gesendet.