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Der Schmerz des Andersseins

"Was ich euch nicht erzählte" von Celeste Ng ist ab morgen unser neuer Fortsetzungsroman

19.07.2017 | Stand 02.12.2020, 17:46 Uhr

Erfolgreiches Debüt: die Schriftstellerin Celeste Ng. - Foto: Day

(DK) Der erste Satz ist wie ein Paukenschlag: "Lydia ist tot." Direkter kann man eine Erzählung kaum eröffnen, als es Celeste Ng in "Was ich euch nicht erzählte" tut, ihrem bisher einzigen Roman. Denn nun beginnen unweigerlich die Spekulationen. Wie kam es zu diesem Todesfall? War es Mord? Oder vielleicht auch Selbstmord? Aber warum eigentlich? Denn Lydia wird als selbstbewusste, intelligente, ebenso erfolgreiche wie glückliche und beliebte Schülerin geschildert. Und warum überhaupt sollte Lydia mitten in der Nacht mit einem Boot herausfahren, wenn sie doch gar nicht schwimmen kann?

Was Ng wie einen Krimi beginnen lässt, entpuppt sich schon bald als etwas völlig anderes, als eine Art Familienroman. Die Ursachen dieses rätselhaften Todesfalls liegen tief verborgen im amerikanischen Gesellschaftsmodell. Sie haben etwas mit Integration und Fremdenfeindlichkeit zu tun, mit Aufstiegswünschen, Ehrgeiz und sozialer Ausgrenzung. Und Lydias überraschender Tod steht auch in einem Zusammenhang mit der jahrzehntelangen Verdrängungskunst in ihrer Familie.

Celeste Ng muss einen weiten Bogen spannen, um Lydias Geschichte zu erzählen. Sie reicht zurück bis zu ihrem Vater James, der als Sohn chinesischer Einwanderer aufwächst. Seine Eltern hatten nur eine Chance, in die Vereinigten Staaten zu gelangen: Sie mussten sich in dem Umfeld von latentem Fremdenhass eines Tricks bedienen und heimlich den Namen eines verstorbenen Amerikaners annehmen.

Der Wunsch, ein richtiger US-Bürger zu werden, ist schon bald übermächtig. Dabei führt James dennoch immer ein Leben als Randfigur, als jemand, der nicht wirklich dazugehört. Fast ironisch wirkt es da, dass er als Literaturprofessor sich schließlich auf ein zutiefst amerikanisches Thema spezialisiert, den Kult der Cowboys. Und dass er als Student der Harvard-Universität sich in die bildhübsche, blonde, sehr amerikanische Marylin verliebt und sie heiratet. Das Leben von James Familie sollte dann möglichst mustergültig angepasst verlaufen - und die Kinder machen mit, brachten führ dieses Ziel Opfer, weil sie ihren Eltern gefallen wollen.

Der kriminalistische Aspekt der Story tritt immer mehr zurück und weicht dem Bericht einer schwierigen, aber letztlich doch erstaunlich erfolgreichen Integration in die Gesellschaft der USA zwischen den 50er- und 70er-Jahren. Aber es bleiben Schleifspuren, verheimlichte Verletzungen, eine brüchige Fassade der Bürgerlichkeit.

Die Autorin Celeste Ng kann offenbar aus eigenen Erfahrungen schöpfen. In Pittsburgh kam sie in den frühen 1980er-Jahren als Kinder hochgebildeter Einwanderer aus Hongkong auf die Welt. Der Vater arbeitete bei der Nasa, die Mutter war Chemikerin. Celeste Ng (der Name wird übrigens "Ing" ausgesprochen) studierte Englisch in Harvard und Michigan. Ihre ersten Erzählungen und Essays publizierte sie in namhaften Zeitschriften und wurden mit Preisen ausgezeichnet. Der Durchbruch kam aber erst mit ihrem Debütroman 2014. Der Erfolg war gigantisch. Lange hielt sich der Roman auf Platz eins der Top-100-Bücher bei Amazon. Er wurde in 19 Sprachen übersetzt, mit zahlreichen wichtigen Preisen geehrt und wird gerade in Hollywood verfilmt.

Ng schreibt mit großer Einfühlsamkeit, sie zeichnet ihre Charaktere packend und wirklichkeitsnah. Vor allem aber gelingt es ihr, ein fast tragisches Netzwerk familiärer Verschwiegenheit zu schildern, ein Mosaik psychologischer Abhängigkeiten, ein kompliziertes Geflecht der Lebenslügen. So ist ihr ein tiefsinniges Sittengemälde der amerikanischen Gesellschaft gelungen, ein Psychothriller und Entwicklungsroman. Und das alles ist so spannend, so elegant geschrieben, als wäre es ein Krimi.

Celeste Ng: "Was ich euch nicht erzählte", aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit, dtv Verlag, 288 Seiten, 19.90 Euro.