Bregenzerwald
Die Entdeckung der Welt

23.08.2016 | Stand 02.12.2020, 19:23 Uhr

Bregenzerwald (DK) Nach der Genesis dauerte die Schöpfungsgeschichte sieben Tage - vom Aufglühen des Lichts bis zur Herrschaft des Menschen über die Tiere. Sieben Jahre brauchte Raoul Schrott (51) für sein Werk "Erste Erde Epos", in dem er sich intensiv mit unserem Wissen über die Erde - von Urknall bis zum Homo sapiens - auseinandersetzt, um es erzählbar zu machen.

Dazu reiste er an die für die Universalgeschichte wesentlichen Fundstellen: zu den ersten menschlichen Skeletten in Äthiopien, zum ältesten Gestein in der kanadischen Arktis, zu den ersten Spuren von Leben im australischen Busch. Er sprach mit Geophysikern, Paläontologen, Mikrobiologen, Astrophysikern und Astronomen. Und schließlich transformierte er das "dichte Denken der Wissenschaften" in "dichterisches Denken": in einzelne Figuren und ihre Lebensgeschichten. Parallel zu diesem Epos über die "Erste Erde" hat der Bayerische Rundfunk 19 Hörspiele und 19 Gespräche mit Wissenschaftlern produziert. Im September werden Buch wie Hörbuch veröffentlicht. Beim Poetenfest in Erlangen, das morgen beginnt, stellt Raoul Schrott sein Opus magnum in einer "Langen Nacht der Ersten Erde" vor.

 

Raoul Schrott, wie kommt man darauf, so ein Projekt wie "Erste Erde" anzugehen, also das Wissen vom Urknall bis zur Gegenwart zusammenzutragen - aber eben nicht als Wissenschaftler, sondern als Poet?

Raoul Schrott: Will das denn nicht jeder - verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält? Am Anfang stand bei mir das zutiefst subjektive und existenzielle Interesse, herauszufinden, was das ist: das da, rings um mich - und ich selbst. Woher die Erde kommt, wie das Leben entstand und warum daraus so seltsame Gestalten wie wir Menschen geworden sind. Um das zu erfassen, galt es - als Laie -, all das in den letzten 100 Jahren exponential angewachsene Wissen darüber zu sichten. Wirklich begreifbar aber wird es erst, wenn man es anschaulich und erzählbar macht. Und da kommt der Poet ins Spiel: der daraus Figuren und ihre Lebensgeschichten erstellt, die diesem akademischen Wissen menschliche Relevanz verleihen.

 

Wie lautet denn die Kernfrage: Wer bin ich im Kosmos?

Schrott: Ja. Das heißt, danach zu fragen, was uns als Homo sapiens, als Wirbeltier oder als Eukaryot mit dem Universum verbindet. Das heißt zu verstehen, wie sich nach dem Urknall die ersten Elemente bildeten; wie die chemischen Reaktionen zwischen ihnen Leben entstehen ließen; wie aus Schwämmen und Fischen schließlich der Mensch wurde - in Entwicklungslinien, die sich mittlerweise fast bruchlos ziehen lassen! Doch obwohl dieses akademische Wissen vorhanden ist, ist es in unserem alltäglichen Bewusstsein kaum präsent. Und noch weniger leiten wir daraus eine Ethik ab.

 

Können Sie das konkretisieren?

Schrott: Schaue ich aus dem Fenster, stehen mir die Berge wie gewohnt vor Augen, fast selbstverständlich - und mir dennoch in ihrem Toten fern und fremd. Unser Wissen erklärt uns dieses Steinere als Ablagerungen von Plankton, als Meeresboden in 300 Metern Tiefe, der sich durch unterschiedliche geologische Prozesse in diese Kalkwand dort verwandelte. Dadurch rückt mir das Steinere anders nahe. Das Tote und scheinbar Ewige der Berge, das uns Menschen völlig gleichgültig gegenübersteht, erhält dadurch eine andere Größe - und wir einen anderen Standpunkt dazu. Indem man all dies beim Schreiben nachvollziehbar macht, stellt sich auch ein Bezug dazu ein, über den zumindest ich auch eine Haltung abzuleiten versuche, eine Vorstellung von Moral.

 

Wie haben Sie angefangen?

Schrott: Chronologisch - also beim Urknall. Und ich wusste, ich kann unser Wissen darüber nur anschaulich machen, wenn ich es an Figuren vorführe, die durch ihre Biografien und ihre Arbeit einen natürlichen Umgang damit haben. Also lasse ich drei Astronomen auf einem Berg der Atacama-Wüste Geräte aufbauen, die testen, ob der Gipfel dort für den Bau des weltgrößten Spiegelteleskops geeignet ist. Es ist Silvester, sie haben schon etwas über den Durst getrunken und reden nun über ihr Leben, ihre Probleme, ihre Frauen und Kinder - um dabei auch vom Anfang des Universums zu erzählen und wie Sonnen sich bilden und Planeten. Indem es stets um die Frage geht, was all das für uns bedeutet.

Am Anfang des Buches steht jedoch ein Schöpfungsmythos der Maori.

Schrott: Ja - weil selbst das genialste Schreiben niemals etwas derart Abstraktes wie den Big Bang imaginierbar machen kann. Und mit diesem Unbeschreiblichen sollte ich nun ein Buch beginnen? Nein - das brauchte einen anderen Einstieg. Deshalb habe ich den letzten, mündlich entstandenen Weltschöpfungsmythos aufgegriffen. Der kam um 1880 auf, als Neuseeland missioniert wurde und die einheimische Religion unter Zugzwang geriet, der biblischen Genesis etwas Vergleichbares entgegenzusetzen. So entstand ein Mythos, der fast wie eine Illustration der modernen Kosmologie klingt - womit auch mein Buch einen ungleich majestätischeren Anfang bekam.

 

Sie haben das Buch Ihren Töchtern gewidmet. Wie alt sind sie?

Schrott: Fünf und zehn Jahre alt. Wobei die Große gleich einwandte: "Du Papa - da muss ich aber erst erwachsen werden, bevor ich dein Buch verstehe!" Bis dahin aber konnte ich ihnen aber schon einmal erklären, warum der Bauplan unseres Körpers von den Schwämmen stammt, weshalb unsere Augen nach vorne schauen oder weshalb der Wald rund um uns grün ist - und nicht etwa schwarz, wie's für die Photosynthese eigentlich viel ergiebiger wäre. Nichts von dem hätte ich vor der Arbeit am Buch gewusst.

 

Was war denn die aufregendste Reise?

Schrott: Die in die kanadische Tundra - zu den über vier Milliarden Jahre alten Überresten des ersten Festlandes auf der Erde. Weil wir da mit dem Kanu gekentert sind, eine Woche nichts zu essen hatten und fast von einem Bären gefressen worden wären, bis uns das Suchflugzeug schließlich gefunden hat. Sie finden das in meinem Buch sehr realistisch wiedergegeben - ohne es mir auf die Fahnen zu schreiben, weil das zu sehr als großsprecherische Selbstdarstellung gewirkt hätte. Daher erlebt das alles eine Berliner Schriftstellerin namens Martina Giuliani.

 

Es ist ein vielstimmiges Buch. Auch wenn es Ich heißt, sind es unterschiedliche Ichs - eine holländische Chemikerin mit Brustkrebs, eine pensionierte englische Mikrobiologin, die jeden Tag in der U-Bahn-Station sitzt, um die Stimme ihrer verstorbenen Mannes zu hören, der Vorstand eines Schweizer Pharmakonzerns, der sich in eine Affenforscherin verliebt hat. Warum gibt es einmal das Ich von Raoul Schrott, ein andermal dieses Erzählen über fiktive Figuren? Einmal Biografie, ein andermal Kurzroman?

Schrott: Da ist das, was man in der jahrelangen Recherchearbeit selbst an Erfahrungen macht. Da sind aber auch all die Personen, die man dabei kennenlernt - und die Themen, die sich manchmal wie von selbst in eigenen Figuren zu verkörpern und auszuleben begannen. Das ist das Glück des Schreibens: dass man dadurch immer wieder neue Blickwinkel auf die Welt erhält und sie mit immer wieder anderen Augen sehen kann.

 

Warum dieses Maskenspiel - nur damit es spannender wird?

Schrott: Nein - auch um damit Protagonisten zu erhalten, für die ihr Fachwissen Teil ihres Lebens ist. Um über sie vorzuführen, was an diesem Wissen für uns im Allgemeinen relevant sein kann. Um immer wieder andere Standpunkte in der Welt präsentiert zu bekommen. Auf diese Weise sind 28 Kurzromane entstanden, in denen man etwas von einem Leben mitkriegt - vom Landschaftsarchitekten bis zum Archäologen, vom Warschauer Aufstand bis zum amerikanischen Kunst-markt. Das soll ja ein Epos leisten - unsere heutige Welt darzustellen, mittels unterschiedlichster Blicke - und dennoch geschlossen, als Ganzes.

 

Was haben Sie mitgebracht von Ihren Reisen? Was ist das Kostbarste?

Schrott: Hier im Regal liegt das älteste Stück Gestein, das man in die Hand nehmen kann, der erste Gneis, 4,2 Milliarden Jahre alt. Außerdem ein Meteoritenstück aus eben jener Materie, aus der sich die Erde vor 4,567 Milliarden Jahren formte. Und ein Stück der ältesten Fossilien, 3,5 Milliarden Jahre alt. All das ist jedoch ohne das Wissen dahinter letztlich bedeutungslos: Gneis finden Sie auch in den Alpen. Und ein Meteorit wird erst etwas Besonderes, wenn man ihn auch als solchen identifizieren kann. Das Schönste, was ich von meinen Reisen mitgebracht habe, sind deshalb nicht die Dinge, sondern die Auseinandersetzung mit ihnen. In Australien einen 3,5 Milliarden Jahre alten Strand zu finden, auf dem man noch das Wellenspiel von damals sah, war eines; beeindruckend, aber wurde er erst durch das Wissen darüber und die Vorstellung, die man sich davon machen konnte. Denn ohne beides blieb das nur ein totes Stück Fels. Es ist erstaunlich, wie das Wissen die Dinge verändert. Und einen selbst damit.

 

Die Fragen stellte Anja Witzke.