Bregenz
Tödliche Leidenschaft im Dauerregen

Die Bregenzer Festspiele bringen eine neue "Carmen" mit vielen starken Bildeffekten von Es Devlin auf die Seebühne

20.07.2017 | Stand 02.12.2020, 17:45 Uhr

Bregenz (DK) Zwei Unterarme ragen aus dem Bodensee: Zarte Rosen-Tattoos auf gebräuntem Teint, etwas abgeblätterter roter Nagellack, in der Linken eine glimmende Zigarette. Beide Hände werfen ein Kartenspiel in die Luft - etliche der Spielkarten wirbeln umher, andere fallen zu Boden und bilden die Spielfläche, einige sind sogar in den Bodensee absenkbar und werden zum feuchten Grab für Carmen. Don José ersticht in der neuen Produktion der Bizet-Oper auf der Bregenzer Seebühne seine geliebte Carmen nämlich mal nicht in rasender Eifersucht mit dem Messer, sondern ertränkt sie im Bodensee. Passend zur Location.

Die Inszenierung des dänischen Regisseurs Kasper Holten, Intendanten des Londoner Royal Opera House, setzt auf eine starke Einbindung des Wassers: Im Wasser wird getanzt, ins Wasser wird gesprungen, Schmuggler gleiten in Booten über Wasser, im Wasser wird gestorben. Und bei der Premiere durfte das Publikum obendrein geduldig im Wasser sitzen - begleitet von Blitzen und Dauerregen. Dass unter diesen Umständen eine musikalisch bezwingende Gesamtleistung der Sänger gelang, muss vorweg mit einem Sonderlob bedacht werden.

Was aber macht die Neuinszenierung des Opernrenners aus, der schon jetzt auf der Seebühne für diese Festspielsaison ausverkauft ist? Bestimmend für die Produktion sind vor allem die starken Bilder der britischen Künstlerin Es Devlin, in deren Kulissen schon berühmte Popstars auftraten. Betrachtet man die Karten spielenden Hände tagsüber, wirkt das Bühnenbild als immerhin zweijährige Skulptur mitten im Bodensee leicht, fast filigran. Seinen Zauber entfaltet das Bild erst mit Beleuchtung und Einsatz einer ausgeklügelten Technik. Hier werden die Spielkarten zu Projektionsflächen: Einmal sehen sie den Protagonisten mittels Livecam ganz nahe ins Gesicht, dann wiederum werden Stierkampf-Sujets und Spielkarten projiziert. Besonders bezwingend ist die Tanzszene bei Lillas Pastia als Wasserballett (auch wenn es diese Idee schon vor einigen Jahren bei "Aida" gab). Für "Carmen" fliegen jetzt die pinkfarbigen Röcke im exzessiven Tanz: Aufgewirbelte Gefühle im Seewasser, live übertragen auf alle Spielkarten - sodass es scheint, als hebe die gesamte Bühne in alle Richtungen im Rausch ab.

Kurz darauf werden die Spielkarten dann zum Gebirge, in dem sich Schmuggler in schwindelerregender Höhe abseilen, während unten stimmungsvolle Feuerstellen glimmen und Boote geheimnisvoll übers Wasser gleiten. Kurzum: Die Produktion ist optisch sehr bezwingend. Ob man die Sevilla-Stierkampf-Klischees (Kostüme!) im letzten Bild hätte zwingend bedienen müssen, sei dahingestellt.

Die größere Frage aber ist: Wo bleibt der Zwiespalt zwischen Liebe und Freiheit, für die sich Carmen letztlich entscheidet? Aus Angst, der Liebe zu José zur erliegen, wählt sie den durch die Karten vorausgesagten Tod. Aus Angst, die geliebte Frau nicht ganz besitzen zu können, erliegt er seinen immer wieder unterdrückten Aggressionen.

Wo aber wird diese Geschichte zweier Außenseiter, die sich aneinander festklammern, aber ihre Liebe nicht leben können, auf der Bühne wirklich nachfühlbar? Die Tragik des Stücks wird nur deutlich, wird auch diese Beziehung deutlich sichtbar. Das aber fällt Regisseur Holten sichtlich schwer. Das hat Folgen: Denn damit werden auch die ums Fixgestirn Carmen-José gruppierten Figuren blass. Michaela, das José liebende Bauernmädchen seines Heimatdorfes, singt sich die Seele aus dem Leib (bezwingend schön: Elena Tsallagova mit lyrischem Sopran!), bleibt aber letztlich farblos, obwohl hoch oben in der linken Kartenspielerin-Hand dekoriert. Auch Escamillo, in maskuliner Stärke und Unnahbarkeit, konzipiert als Gegenbild zum gefühlvollen José und Möglichkeit der Freiheit für Carmen, bleibt szenisch auswechselbar. Wie sich überhaupt die Personenführung (mit ein paar Ausnahmen) sehr aufs Gewohnte verlegt. Auch der Auftritt von Carmen als Kind im roten Kleid wirkt eher beliebig statt erhellend oder charakterisierend.

Musikalisch wurde man am Premierenabend leider immer wieder abgelenkt vom Dauerregen und dem Dampfgarer-Feeling unter Regenhauben. Hitzig ist sie dennoch dirigiert, diese "Carmen", die Paolo Carignani gewohnt charismatisch den Wiener Symphonikern entlockt: ein Feuerwerk an berühmten Hits, funkensprühend dirigiert mit einem besonderen Feingefühl für Farbigkeit mancher auch solistisch eingesetzter Instrumenten-, besonders der Bläsergruppe. Hut ab nochmals vor der Sänger-Besetzung. Gaelle Arquez ist allen voran eine Bilderbuch-Carmen. Mit Jeans und rotem Blouson, das neben der schwarzen Haarpracht im Wind weht, steht sie trotzig im Regen und singt mit einem kostbaren Mezzo, der sehr warm timbriert und sehr flexibel ist im Tonumfang. Daniel Johansson als José darf vor allem in der "Blumenarie" tenoralen Schmelz verströmen, Scott Hendricks hat es mit seinen Torero-Liedern und einem auftrumpfenden Bariton musikalisch sowieso leicht. Einzig von den beiden Zigeunerinnen Frasquita (Jana Baumeister) und Mercédès (Marion Lebègue) hätte man sich im Kartentrio noch mehr stimmliche Durchsetzungsfähigkeit gewünscht.

Das Publikum bejubelte die Premiere einer sehr dekorativen, bild- und musikstarken Carmen, die dem Kern des Stücks allerdings auch etwas schuldig bleibt. Wer keine der begehrten Karten für die Aufführungsserie bis Ende August ergattern konnte: Am 26. August überträgt 3sat die Produktion ab 20.15 Uhr.