Bregenz
Sturmgewalt und Sonnenbrand

Die Festspiele in Bregenz bieten bei fast jedem Wetter ein einzigartiges Kulturerlebnis Ein Blick hinter die Kulissen

08.08.2017 | Stand 02.12.2020, 17:40 Uhr

Foto: DK

Bregenz (DK) Es gibt die Kachelzähler und die Freiwasserschwimmer, Gourmets und Grillfans, Hotelgäste und Camper. Genauso gibt es Opernfreunde und Open-Air-Besucher. Die Extremisten der ersten Gruppe würden niemals nach Verona oder auch nur ans Rote Tor nach Augsburg fahren, denn sie suchen perfekten Klang, Einsamkeit in der Dunkelheit, den Focus auf die Bühne, atemberaubende Perfektion. Sie sitzen in der Spielzeitpause der großen Häuser in ihren abgedunkelten Bibliotheken und hören sich Gesamtaufnahmen an. Alle anderen lieben die Sommerfrische der Kultur und für sie heißt die Parole derzeit: Auf nach Bregenz!

Hier am Bodensee küsst die Show jedes Jahr erneut das Musiktheater aus dem Dornröschenschlaf. Dieses Jahr steht auf der Seebühne "Carmen" auf dem Spielplan, bei gewohnt spektakulärem Bühnenbild: Zwei gigantische Frauenhände, die ein Kartenspiel in die Luft werfen. Festspielleiterin Elisabeth Sobotka hatte den richtigen Riecher: Obwohl das Stück stark verkürzt wird und die Inszenierung wenig riskiert, sind alle 7000 Plätze bei jeder Vorstellung ausverkauft.

Der Sommer meinte es bisher auch gut mit Carmens Freunden, mancher holte sich vor der Vorstellung noch kurz einen Sonnenbrand und bisher musste keiner der Abende ins Haus verlegt werden - denn weil das Orchester seit dem Jahr 2000 mit den empfindlichen Instrumenten im Trocknen sitzt, harren die Zuschauer auch schon mal in Regenhäuten aus, Hauptsache die Show geht weiter. Und das muss sie auch! Rund ein Viertel der Bregenzer Einwohner würde auf die Zuschauertribüne passen, ohne die von weit her, übrigens fast zu einem Dreiviertel aus Deutschland anreisenden Zuschauermassen wäre das Spiel sofort aus. Zwar steht bei Sturm ja auch immer eine Indoor-Variante des Bühnenbildes bereit - aber nicht einmal ein Drittel der Zuschauer würde ins Festspielhaus hineinpassen. Dennoch, wer sicher sein will, kauft diese Premium-Tickets.

Ansonsten ist Bregenz eine relativ hierarchiefreie Veranstaltung, denn die Sicht auf den Hauptdarsteller ist von allen Plätzen gleich gut und er ist ja auch riesig: der Bodensee. Die Elemente Wasser und Luft haben auch den dänischen Carmen-Regisseur Kasper Holten, künstlerischer Leiter der Covent Garden Opera in London inspiriert. Seine für hiesige Sehgebräuche sehr traditionelle Interpretation sieht Carmen im Kraftfeld zwischen Freiheit/Luft und Schicksal/Wasser. So schöpfen die Arbeiterinnen elegant ihr Putzwasser aus dem See, die Choreografie beschert bei feuriger Wassergymnastik den Tänzerinnen malerisch-nasse Röcke und Carmen entzieht sich ihren Häschern kraulend. Natürlich braucht hier der düpierte Liebhaber auch kein Messer, um Carmens Leben zu beenden: Quälend lang dehnen sich die Sekunden, wenn er zu Ende der Oper die sich Sträubende in den See drückt - gut zu wissen, dass die Sängerin im Kostüm einen Atemschlauch versteckt hat.

Für die magisch schnellen Umzüge nach jedem Wassereinsatz hat sie in improvisierten Zelten hinter der Bühne Helferinnen, die schnell ein trockenes rotes Kleid und eine neue Perücke über sie stülpen. Taucher gehören zur Besetzung der Seebühne genauso wie die Kapitäne, welche Boote mit Darstellern zu ihren Szenen bringen. Immer können eine Ente, ein Schwan oder eine Handvoll Glühwürmchen den Sängern die Schau stehlen. Dazu kommen noch allerlei Unwägbarkeiten des Wassers: So verschwand bei der Generalprobe eine Puppe, die den erschossenen Zuniga doubelt und aus einem Schmugglerboot in den See geworfen wird, zunächst auf Nimmerwiederfinden im Trüben. Als der zuständige Taucher mit seiner Taschenlampe unverrichteter Dinge wieder auftauchte, wurde für die Premiere schnell noch eine Angelschnur-Konstruktion improvisiert.

Auch die Bühnentechnik kennt hier besondere Herausforderungen: die knifflige Verstärkung beispielsweise, die mit 800 Boxen im sogenannten BOA-Band um die Zuschauer herum auf der Tribüne einen Raumklang erzeugt, der den großen Abstand zur Szene vergessen lässt. Das Bühnenbild, das auf dem See eine enorme, aller Witterung ausgesetzte Fläche ausmacht, muss dem Winter genauso trotzen wie Regen, Sturm und völlig unterschiedlichen Wasserständen. Seine Oberfläche, die betanzt, belaufen, beklettert wird, darf nicht glitschig werden und natürlich müssen die Geräte für alle technischen Raffinessen für die Zuschauer unsichtbar sein.

Natürlich darf das Spektakel im Wasser auch die Umwelt nicht gefährden. Für die Londoner Bühnenbildnerin Es Devlin gab es also weitaus größere Herausforderungen, als nur eine bildstarke Idee zu liefern. Dennoch, auch diese Idee besticht: Die beiden Hände, die 17 Meter hoch und 20 Tonnen schwer aus dem See ragen, sind mit 15 Tonnen am Grund verankert. Die zarten, kräftigen Frauenhände, deren linke auch noch lässig eine qualmende Zigarette hält, hat die Bühnenbildnerin nach ihren eigenen modellieren lassen.

Carmen ist zwar der Schönheitsstar des fahrenden Volkes, aber sie kann auch anpacken. Das unterstreichen auch ihre leicht abgeblätterten Fingernägel, welche Devlin sich genauso nachträglich erbeten hat wie das leichte Gilb der Spielkarten. Hierfür mussten die Theatermaler in halsbrecherischer Aktion Knicke und Druckstellen auf riesige Flächen zaubern, die längst im See verankert waren. Jede Spielkarte, auf welche sechs Hochleistungsprojektoren Filme projizieren können, ist in etwa so groß wie ein kleines Appartement. Am Ende zählt eben der Gesamteindruck - was dahintersteckt ist viel Arbeit.

"Carmen" steht noch bis zum 20. August auf dem Programm der Seebühne und wird auch in der nächsten Saison gezeigt. Der Vorverkauf dazu startet am 20. August.