Berlin
Entscheidung gegen die Kunst

Angeblich sexistisches Gedicht von Eugen Gomringer wird übermalt

24.01.2018 | Stand 02.12.2020, 16:54 Uhr

Berlin (jsr/dpa) Trotz internationaler Kritik will die Alice-Salomon-Hochschule in Berlin ein angeblich sexistisches Gedicht an ihrer Fassade übermalen. Der Akademische Senat beschloss mehrheitlich, statt den Schweizer Lyriker Eugen Gomringer künftig alle fünf Jahre einen neuen Poetik-Preisträger mit Verszeilen zu Wort kommen zu lassen.

Gomringer kritisierte die Entscheidung. "Das ist ein Eingriff in die Freiheit von Kunst und Poesie", sagte der 93-Jährige der Deutschen Presse-Agentur. Er behalte sich rechtliche Schritte vor. Der Deutsche Kulturrat, Spitzenorganisation von 250 Bundeskulturverbänden, reagierte "erschüttert".

Angehörige der Hochschule hatten moniert, Gomringers auf Spanisch verfasstes Gedicht "avenidas" könne Frauen gegenüber als diskriminierend aufgefasst werden. Dabei geht es um den Satz: "Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer". Damit würden Frauen, so die Kritiker, zum Objekt männlicher Bewunderung degradiert.

Der Fall hatte bereits im vergangenen Jahr international Aufsehen erregt. Das Deutsche PEN-Zentrum und der Kulturrat warnten vor Zensur. Die Hochschule verteidigte ihre Entscheidung dagegen. Für sie bedeute das Votum "ein klares Bekenntnis zur Kunst", erklärte Rektor Uwe Bettig.

Gomringers Gedicht steht seit 2011 in großen Lettern auf der Südfassade der Hochschule im Stadtteil Hellersdorf. Die Verantwortlichen hatten damit die Vergabe ihres Alice-Salomon-Poetikpreises an den Lyriker würdigen wollen.

Bei einer Fassadenrenovierung im Herbst soll nun stattdessen ein Text der letztjährigen Preisträgerin Barbara Köhler angebracht werden, wie von ihr selbst vorgeschlagen. In fünf Jahren käme dann erneut ein Wechsel.

Der Geschäftsführer des Kulturrats, Olaf Zimmermann, sagte: "Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass eine Hochschule, die selbst Nutznießer der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit ist, dieses Recht dermaßen mit Füßen tritt."

Simone Schimpf, Direktorin des Ingolstädter Museums für Konkrete Kunst, das vor Jahren die Kunstsammlung von Gomringer erworben hatte, ist entsetzt über die Debatte. Gegenüber unserer Zeitung sprach sie von einem "Eingriff in die Kunstfreiheit". Das Gedicht von Gomringer würde allzu "banal und einseitig" begriffen. "Hier wird nicht eine Szene beschrieben, in der Frauen Opfer sind, sondern es geht auch um Sprache und Klang. Da gibt es noch viele weitere Bedeutungsebenen, denen man so nicht gerecht wird. Wir kommen hier in einen Bereich der Zensur, der nichts mehr mit der ursprünglichen, eigentlich wichtigen Diskussion zur Frauendiskriminierung zu tun hat."

Bei einer Online-Abstimmung hatten sich die Hochschulangehörigen Ende 2017 mit Mehrheit gegen das Gomringer-Gedicht ausgesprochen. Der paritätisch besetzte Senat entschied sich nun mit acht von zwölf Stimmen für eine von mehreren vorgeschlagenen Alternativen. Das umstrittene Gedicht war bei der Sitzung nach Angaben einer Sprecherin gar nicht mehr Thema.

Die Hochschule teilte mit, sie werde Gomringers Wunsch nachkommen und auf einer "Tafel" in Spanisch, Deutsch und Englisch an das Gedicht und die Debatte darum erinnern. Der Lyriker selbst hat dafür "drei Plakate" gefordert.