Bayreuth
Gerichtssache "Meistersinger"

Bayreuther Festspiele: Regisseur Barrie Kosky lässt die Wagner-Oper im Saal der Nürnberger Prozesse spielen

26.07.2017 | Stand 02.12.2020, 17:44 Uhr

Entlarvt und ausgelacht als "Ewiger Jude": Pogromstimmung in Barrie Koskys Inszenierung von "Die Meistersinger von Nürnberg" mit Johannes Martin Kränzle als Sixtus Beckmesser. - Foto: Nawrath/Festspiele Bayreuth

Bayreuth (DK) Bleischwer lastet die Rezeptionsgeschichte auf Richard Wagners Oper "Die Meistersinger von Nürnberg". Wer das Stück über den Sängerwettstreit heute inszeniert, muss unwillkürlich an die Verherrlichung der deutschen Kultur denken, an den Stadtschreiber Beckmesser, angeblich eine Judenkarikatur. Auch an den offenen Antisemitismus des Komponisten, seine Kampfschrift "Das Judentum in der Musik". Und an die Vorliebe der Nazis für diese Oper. Man kommt fast nicht daran vorbei. Aber muss man den Antisemitismus in den Mittelpunkt rücken, muss man das, was die "Meistersinger" bewirkten, unbedingt bei einer Inszenierung mitdenken? Muss man Wagners Leben mitspielen, wenn man die "Meistersinger" inszeniert

Barrie Kosky ist der erste jüdische Regisseur bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth. Die Meistersinger kann er offenbar nicht ohne den historischen Hintergrund verstehen. Viele Regisseure haben in den vergangenen Jahren das fremdenfeindliche ideologische Umfeld von Wagner-Opern ausgeleuchtet. Keiner allerdings so radikal wie Kosky bei dieser deutschesten aller Wagner-Opern.

Der australische Regisseur geht an den Ursprung zurück: das Wohnzimmer der Villa Wahnfried. Da, wo sich die Familie und Freunde Wagners trafen, wo der Komponist die Oper am Flügel geschrieben hat. Als die ersten Töne der Ouvertüre durch den Saal fluten, sieht man eine genaue Nachbildung des plüschigen Zimmers. Die Idee ist nicht ganz neu, bereits Stefan Herheim verlegte in seiner Salzburger Festspielinszenierung die Meistersinger nach Wahnfried. Die Szene spielt im August 1875, am späten Vormittag. Wagner kommt vom Spaziergang mit zwei wuscheligen Neufundländern, seine Frau Cosima rauscht herein, von der Migräne zermürbt. Später erscheinen noch Franz Liszt und Hermann Levi, jener Dirigent, der "Parsifal" uraufführte und den Wagner gleichzeitig wegen seines Judentums sadistisch piesackte.


Die Oper wird nun aktionistisch wie ein Stummfilm. Die Menschen wuseln über die Bühne, agieren simultan und mit theatralischen Gesten. Da packt Wagner Geschenke aus, Schuhe, Parfümflakons, ein Porträt von Cosima. Man trinkt Tee und unterhält sich. Wagner und Levi diskutieren mit dem Taktstock in der Hand die Partitur. Liszt tobt sich am Flügel aus. Das ist komödiantisch inszeniert, zum Schmunzeln - und ein bisschen harmlos. Bis das eigentliche Stück mit der Kirchenszene beginnt, in der Walther von Stolzing verliebt Eva anspricht. Die Orgel ertönt, die Opernfreunde im Wohnzimmer fallen andächtig sich bekreuzigend auf die Knie, nur Levi, der Jude, will einfach nicht mitmachen. Dann, plötzlich, beginnen die Akteure die Oper zu spielen. Aus Wagner wird Hans Sachs, Liszt wird zu Veit Pogner, dem Vater von Evi, die wiederum nun von Cosima verkörpert wird. Walther von Stolzing ist vorher aus dem Flügel gekrochen. Und Beckmesser, wie könnte es anders sein, wird von Levi verkörpert. Und spielt ihn schließlich wie das böse Klischee eines Juden, immerzu die Hände reibend, hündisch ergeben und gerissen. Am Ende des ersten Aktes - Walther hat sich gerade den Meistern vorgestellt und als Sänger versagt - rückt plötzlich das Wohnzimmer nach hinten, wie eine lustige Postkarte, und davor senkt sich der Raum, in dem die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse stattfanden. Hans Sachs alias Wagner eilt nach vorne zum Zeugenstand.

Kein Zweifel, hier wird Gericht gehalten - über Wagner, über die "Meistersinger", über Deutschland.

Der Sitzungssaal ist nun das Bühnenbild für das restliche Stück, auf der Bühne tummelt sich das Personal mal in Gewändern der Wagner-Zeit, dann wieder im farbigen Renaissance-Dress. Vor allem aber ist im zweiten Akt über alles erst einmal Gras gewachsen. Schuster Hans Sachs und Evchen treffen sich im Grünen, Beckmesser jault sein Liebesständchen im Gerichtssaal, nur leider versehentlich nicht vor Eva, sondern vor ihrer Freundin Magdalene, und wird dafür von deren Verlobten David verprügelt. So jedenfalls geht normalerweise die Geschichte.

Bei Kosky steigert sich alles zum Pogrom. Das Gras wird in den Bühnenhimmel gezogen. Statt zur Massenprügelei richtet sich der Zorn allein gegen Beckmesser. Ihm wird die Maske des "Ewigen Juden" übergezogen, während gleichzeitig als riesiger Ballon das hakennasige Judenkonterfei über der Bühne hängt: ein Popanz, bösartig blickend, aber nur aufgeblasene Luft.

Ganz am Ende predigt Hans Sachs seine Warnung vor "welschem Dunst mit welschem Tand" mit großer Geste dem Publikum, während ein Statistenorchester hereinrollt und repräsentativ die deutsche Musik auf der Bühne spielt und die Wände des Gerichtssaals utopistisch in die Höhe gleiten. Eine Vision vom guten Deutschland?

Musikalisch ist die Produktion ein Volltreffer. Das Festspielorchester unter der Leitung von Philippe Jordan spielt mindestens so luftig-leicht, wie Kosky inszeniert. Und die Sängerriege ist absolute Weltklasse. Besonders Michael Volle als Sachs spielt und singt, als ginge es um sein Leben mit schier unendlichen Nuancen. Einen hinreißenderen Wagner-Tenor als Klaus Florian Vogt mit seinem knabenhaften Piano ist ohnehin kaum zu finden. Aber auch sein Gegenspieler Johannes Martin Kränzle als Beckmesser bewältigt die Partie mit müheloser Meisterschaft. Ebenso hinreißend: Günther Groissbock als Veit Pogner, Daniel Behle als balsamisch singender David. Allenfalls Anne Schwanewilms kann als manisch hüpfende, etwas ältliche Eva nicht ganz überzeugen.

Das Publikum jedenfalls jubelt ohne Ende, besonders über die Sänger. Die Regie bekommt außer vielen Bravos nur ganz wenige Buhrufe - aber das gehört in Bayreuth schon zum guten Ton. Also ein voller Erfolg, trotz des tonnenschweren Nazi-Ballasts, den Kosky in seiner doppelbelichteten Erzählweise mitschleppt. Trotz auch der Vergröberung, die die zentrale Gestalt des Beckmessers bei ihm erfährt. Denn, dass der regelversessene Stadtschreiber jemals als Judenkarikatur von Wagner gedacht war, ist eher unwahrscheinlich. Da schwingt noch vieles andere mit, zum Beispiel der Groll auf den Kritikerpapst Eduard Hanslick. Wichtiger ist der leichthändige, witzige Zugriff, die komödiantische Verpackung des ernsten Stoffes, die Lust am Lachen - auch wenn sie manchmal zutiefst böse ist.