Barrie
"Richard Wagners Humor ist böse"

19.07.2017 | Stand 02.12.2020, 17:46 Uhr

Barrie Kosky, Australier mit jüdischen Wurzeln, hat lange überlegt, ehe er sich entschloss, die "Meistersinger von Nürnberg" bei den Bayreuther Wagner-Festspielen zu inszenieren. Vor dem ersten Probentag war ihm mulmig zumute. Und jetzt?

Bayreuth (dpa) Ein Australier mit jüdischen Wurzeln, der die wohl am meisten belastete Richard-Wagner-Oper "Die Meistersinger von Nürnberg" inszeniert - und das auch noch bei den von Wagner einst gegründeten Bayreuther Festspielen: Die Premiere von Barrie Koskys "Meistersinger"-Inszenierung am 25. Juli wird mit großer Spannung erwartet. Der Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin ist gelassen. Zum Interviewtermin erscheint er mit Hund und Umhängetasche, locker posiert er vor der Festspielhaus-Fassade fürs Foto. Die bösen Geister rund um die Festspiele und das Stück seien am ersten Probentag verflogen, sagte er.

Herr Kosky, Bayreuth ist nicht Berlin - wie gefällt es Ihnen hier?

Barrie Kosky: Es ist ganz anders als Berlin. Aber genau das gefällt mir. Ich erwarte, dass jedes Theater, jede Stadt einzigartig ist. Die Zeit hier ist sehr produktiv. Ich habe hier eine grandiose Besetzung und einen fantastischen Dirigenten. Das erleichtert alles. Es gibt hier keine Eitelkeiten, kein Drama, keinen Skandal im Probenraum.

Auch Dirigent Philippe Jordan versichert, sie alle hätten großen Spaß. Woran liegt das?

Kosky: Ich versuche immer, bei den Proben eine Balance aus Ernsthaftigkeit und Spaß herzustellen. In Bayreuth trägt Philippe Jordan, in dessen Adern Theaterblut fließt, maßgeblich dazu bei. Man erwartet ja immer einen theatralischen Dirigenten in der Oper und umgekehrt einen musikalischen Regisseur. Das ist eigentlich Opern-Utopie.

Und hier ist es der Fall?

Kosky: Ja, Philippe Jordan ist grandios. Er kennt das Stück in- und auswendig, arbeitet sehr präzise mit dem Text, das ist unglaublich wichtig. Und er ist ein überaus angenehmer und offener Kollege. Er arbeitet hervorragend mit den Sängerinnen und Sängern, sie fühlen sich sehr unterstützt.

Sie haben, wie man weiß, lange gezögert, die Anfrage aus Bayreuth anzunehmen. Was waren die Gründe, doch zu inszenieren?

Kosky: Das Ja kam nicht sofort. Zunächst wollte ich die Anfrage ablehnen, aber dann hatte ich ein paar Ideen und Impulse. Das ist immer sehr gefährlich - wenn mir das passiert, muss ich ein Stück unbedingt machen. Das ist wie beim Stierkampf - ich habe Blut geleckt und muss das zu Ende bringen. Ich habe jahrelang geglaubt, ich mache dieses Stück niemals. Aber ich habe einen Weg gefunden. Alles drum herum hat gestimmt, die Besetzung, der Dirigent. Also habe ich gesagt: Why not? Warum nicht?

Bei den "Meistersingern" schwingt unglaublich viel mit, die Oper schleppt viel mit, viele Deutungen, Interpretationen. Wie gehen Sie damit um?

Kosky: Verglichen mit anderen Wagner-Opern, bei denen die Charaktere auch kompliziert sind, sind sie bei den "Meistersingern" zudem sehr ambivalent - auch wegen der Themen: Was ist Kunst, was ist deutsche Kunst? Was ist gute Musik, was schlechte? Was ist Deutsch, und was nicht? Wer entscheidet darüber? Wer ist Teil der Gemeinschaft? Diese Themen sind explosiv, das waren sie im 19. und 20. Jahrhundert, und das sind sie auch im 21. Jahrhundert. Und es wird noch viel komplizierter dadurch, dass Wagner das Werk als Komödie schrieb. Die Charaktere sind besonders im Fall von Hans Sachs und Beckmesser vielschichtig und sehr ambivalent. Das Stück pendelt. Es ist fünf Stunden später etwas völlig anderes als am Anfang. Es ist das einzige große Wagner-Stück mit einem Kollektiv im Titel. Hans Sachs ist die längste Partie, taucht aber nicht im Namen auf. Das ist für mich der erste Schlüssel. Und der nächste Schlüssel: Was ist überhaupt komisch, humorvoll darin? Ja, es gibt einige witzige Momente in der Oper. Und ja, wir lachen über Beckmesser. Aber es ist eine gemeine Komik. Das ist keine Komödie in der Tradition von Shakespeare. Richard Wagners Humor ist böse.

Und die Oper trägt einen konkreten Ortsnamen im Titel, Nürnberg.

Kosky: Es ist sehr wichtig, wie man Nürnberg auf die Bühne bringt. Ich würde behaupten, dass man andere Wagner-Opern überall spielen lassen kann. Man kann "Tristan" auf dem Mond ansiedeln, Cornwall ist nur eine Metapher. Ebenso der Venusberg bei "Tannhäuser", der für Erotik steht. Nürnberg hingegen ist Nürnberg. Allerdings nicht das reale Nürnberg wie in einem Dokumentarfilm. Vielmehr eine Idee von Nürnberg. Ende des 18. Jahrhunderts wurde Nürnberg als Utopie entdeckt, als Paradies auf Erden. Im 19. Jahrhundert war Nürnberg eine geträumte Fantasie. Die Idee, dass Handwerker Nürnberg kontrollieren, war keine historische Realität. Nürnberg war eine internationale Handelsstadt, es war nicht so, dass Handwerker regierten und immer die Sonne schien. Aber wie konnte in weniger als 100 Jahren die romantische Utopie zur deutschen Dystopie werden? Vom romantischen Fantasiebild über die Nürnberger Gesetze, die Reichsparteitage, die Vernichtung im Zweiten Weltkrieg hin zu den Nürnberger Prozessen: Ich kenne kein anderes Beispiel für eine Stadt, die so eine extreme Entwicklung durchgemacht hat.

Wie gehen Sie im Festspielhaus um mit der Bedeutungsschwere des Ortes?

Kosky: Der Zauberspuk war am ersten Probentag weg. Ich habe immer gedacht: Oh Gott, es ist Bayreuth, es ist diese Geschichte, diese Familiengeschichte im Dritten Reich, dieser pseudo-religiöse Kult - all das waren Gründe, warum ich zunächst Nein gesagt habe. Ich hatte Angst davor, dass es anstrengend wird in der Probenzeit. Denn die Probenbühne muss für mich ein geschützter Raum sein, eine geschlossene Welt. Was ist, wenn ich nicht arbeiten kann? Ich war nervös bis zur ersten Probe. Ich habe gedacht, da gibt es zu viele Schatten und Geister. Aber der erste Tag hier war ein Tag der fantastischen Befreiung. Wagner hat keine Macht mehr über meine Arbeit. Das war ein sehr schönes Gefühl. Und es wird anhalten. Ich spüre Wagner auch nicht an diesem Ort. Allerdings in seinem Werk. Er ist ein Faden in diesem Stück: Wagner hat sich stark identifiziert mit Hans Sachs. Sachs war sein utopisches Alter Ego: Der Mann, der er sein wollte und von dem er wusste, er kann es nicht sein. "Heil Sachs" ist eigentlich "Heil Wagner" am Ende. Es ist aber komplizierter, weil er sich auch mit Walther von Stolzing identifizierte. Wagner ist äußerst widersprüchlich: "Ich bin Tradition und Revolution. Prophet und Messias." Das ist ein atemberaubender Narzissmus.

Was sagen Sie zur Besetzung?

Kosky: Ich könnte mir nicht vorstellen, die Inszenierung anders als mit Michael Volle und Johannes Martin Kränzle zu machen. Sie sind für mich der beste Sachs und der beste Beckmesser derzeit. Sie sind beide genial begabte Sängerdarsteller. Sie haben Gesangstalent, Spieltalent und Fantasie. Und sie sind wunderbare Kollegen. Das ist eine pure Freude. Und ich liebe die Stimme von Klaus Florian Vogt als Walther. Was er singt, ist nie gebrüllt, es ist schön, leise, elegant. Ich bin ein riesengroßer Fan. Anne Schwanewilms als Eva ist eine ungewöhnliche Wahl. Sie hat die Partie jahrelang abgelehnt, sie fand den Charakter zu eindimensional. Ich habe ihr erzählt, dass sie in dieser Inszenierung nicht nur Eva sein kann, sondern auch Cosima Wagner. Das fand sie sehr spannend. Fazit: Ich hätte mir keine bessere Besetzung wünschen können.

Das Interview führte

Kathrin Zeilmann.

ZUR PERSON

Barrie  Kosky ist seit 2012 Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin und schnell zum Publikumsliebling in der Hauptstadt avanciert. Das Haus wurde 2013 zum "Opernhaus des Jahres" gewählt. Die Bandbreite seiner Arbeiten ist groß - Barockoper schätzt er ebenso wie Operette. An zahlreichen renommierten Häusern inszeniert er. Kosky wurde 1967 in Australien geboren. Der Regie wandte er sich nach einer musikalischen Ausbildung zu. 2001 ging er nach Europa, um zunächst am Wiener Schauspielhaus zu arbeiten.