Augsburg
Wer bin ich und wenn ja, wie viele Peer Gynts?

Gelungener Auftritt: Augsburgs neuer Intendant stellt sich und sein neues Ensemble mit Henrik Ibsens Klassiker vor

17.10.2017 | Stand 02.12.2020, 17:20 Uhr

Schauspielerisch in Höchstform: Gerald Fiedler und Anatol Käbisch in Ibsens "Peer Gynt" im Augsburger Martini-Park. - Foto: Jan-Pieter Fuhr

Augsburg (DK) Nicht Fantasien, nicht Suff und auch nicht Sex können dem lebensuntauglichen Träumer Peer Gynt Halt geben. Er findet ihn nicht in Norwegens Bergen, nicht im afrikanischen Marokko, nicht in der Irrenanstalt. Man nennt Henrik Ibsens Drama um den aus der Welt der Funktionierenden gefallenen Sinnsucher gerne den nordischen "Faust". Doch die Inszenierung des "Peer Gynt" am Theater Augsburg zeigt eher ein Geschöpf, das stets das Große will und stets das Kleinste schafft. Einen Mann, dessen Plan zum Bau eines Palastes - warum auch eine Hütte bauen? - schon beim ersten Griff zur Axt an einem Splitter im Finger scheitert. Jede neue Idee verpufft ebenso flink im Reich der Tagträume.

Peer Gynt ist ein junger Mann, der nicht erwachsen geworden ist. Sein Vater hat den Hof in den Ruin gewirtschaftet, seine dominante Mutter hat ihren Spross mit Märchen von Dämonen und Trollen der Wirklichkeit so entfremdet, dass Peer Gynt der Weg aller anderen Dorfbewohner - arbeiten, heiraten, sterben - nicht offen steht. Ein Leichtes wäre die Trendwende zu Beginn des Dramas noch gewesen, hätte er eine schon an Land gezogene gute Partie geehelicht. Doch die lässt er sausen, weil er sich in den Wäldern herumtreibt. Er macht Pläne und scheitert, gerät in die Welt der Trolle und entflieht ihr, er kommt nach Hause und findet die sterbende Mutter - die letzte Verankerung in der Realität geht verloren. Fortan treibt er durch die Welt, landet im Irrenhaus und entkommt, wird reich und verarmt, ehe er den Weg nach Hause wiederfindet.

Die erste Regiearbeit des neuen Intendanten André Bücker verteilt die Figur des Peer Gynt auf sechs gleich gekleidete Schauspieler, die sich wie ein visueller Chor auf der Bühne vervielfältigen. Den echten Chor müssen sie nicht bilden: Die Band Misuk hat eigens Musik und Lieder für den Theaterabend geschrieben. Mit samtig-starker Stimme singt Eva Gold, die zugleich als Statistin zwischen den Peer Gynts umherwandelt, eindringliche und melancholische Songs, in denen das Ungewiss-Bedrohliche mitschwingt. Die Zusammenarbeit mit der Augsburger Band ist ein Glücksfall.

Jan Steigert (Bühnenbild) und Frank Vetter (Video) kennt Bücker hingegen von früheren Produktionen. Gemeinsam ist ihnen eine bildstarke, stimmige und eindringliche Übersetzung des 150 Jahre alten Stücks gelungen. Eine Leinwand für Landschaftsvideoprojektionen umspannt im Halbrund den Bühnenhintergrund im Martini-Park, der sich als höchst geeignete Interimsspielstätte erweist. Eine veränderliche Blockhütte im Zentrum der sandbestreuten Bühne kann offen sein, halb transparent und ihrerseits als Leinwand für Videoübertragungen dienen, die teils aus dem Bühnengeschehen selbst stammen. In schrill-überzeichneten und unentwegt wechselnden Kostümen (Suse Tobisch), passend zur häufig drastischen Darstellung der Trolle, der Irren, der Diebe, herrscht ständig personeller und visueller Tumult auf der Bühne. Das klingt nach dem Regieprinzip "Viel von allem". Was es in der Tat ist, aber bis zum Schluss auf gleich hohem Niveau gehalten wird. Das ist vor allem auch ein Verdienst der Schauspieler. Thomas Prazak, Kai Windhövel, Sebastian Müller-Stahl, Gerald Fiedler, Daniel Schmidt und Anatol Käbisch mimen die sechs Peer Gynts in perfektem Maße wie eine homogene Person und eben doch variantenreich: komödiantisch, melancholisch, nuanciert, exaltiert - alle können alles, inklusive der rhythmischen Sprache des "dramatischen Gedichts", das in einer Übersetzung Christian Morgensterns auf die Bühne kommt.

Als Primus inter Pares erweist sich Anatol Käbisch, dessen Spiel umwerfend konzentriert, vielseitig, scharf gezeichnet und hoch präsent ist. Ihren Spieltrieb dürfen die Peers ausleben, indem sie das komplette restliche Personal des Stücks ebenfalls mimen. Für die Frauen bleiben nur die Rollen der Mutter - Ute Fiedler als glatzköpfige Alte - und Karoline Stegmann als Solvejg, jener Figur, in der zuletzt die Möglichkeit auf Erlösung durch Liebe zumindest als Hoffnungsschimmer am Horizont erscheint.

Die Inszenierung erzählt das Scheitern Peer Gynts nicht nur zeitlich, sondern auch emotional fast linear. Das sorgt für den einzigen Wermutstropfen der Inszenierung: Im zweiten Teil des über dreistündigen Abends gibt es trotz wechselnder Szenarien wegen der starken Verdichtung des langen Stücks echte Längen, in denen der Zuschauer sich mühen muss, nach den inhaltlichen Fäden zu greifen. Nichtsdestoweniger macht André Bückers erste verheißungsvolle Regiearbeit Lust auf mehr. Das gilt nicht minder für das weitgehend neue Ensemble, das sich durch die Bank schauspielerisch in Höchstform gezeigt hat.

 

Weitere Termine im Martini-Park: 21., 29. Oktober, 11., 18., 30. November, 1., 8. Dezember, Kartentelefon (08 21) 3 24 49 00.