Augsburg
Vernetztes Theater

Spannendes Experiment: Augsburg zeigt Thomas Köcks Stück "paradies fluten (verirrte sinfonie)"

12.10.2017 | Stand 02.12.2020, 17:22 Uhr

Vom Klimawandel bis zur Globalisierung: Thomas Köcks "paradies fluten" ist eine Art dramatischer Essay. - Foto: Fuhr

Augsburg (DK) Klimawandel und Globalisierung, die Ausbeutung und Zerstörung der Natur, die Ausbeutung und Zerstörung des Menschen, entfesselter Kapitalismus und die Verlierer im sozialen Abseits, überalternde Gesellschaften und ihre Krankheiten - kann Theater das alles? Kann Theater das in einem Abend in den Blick nehmen, die gesamte komplexe Gegenwart (und ihre Wurzeln) auf die Bühne stellen

Theater kann das. Intelligentes Theater mit intelligenten Texten und intelligenten Inszenierungen kann das. In Augsburg genügen Nicole Schneiderbauer und ihrem Regieteam dazu eine auf vier Seiten von Publikum umgebene Bühne, ein paar Seile, ein paar (riesige) Netze. Das ist schlüssig, wenn auch vielleicht etwas plakativ: Die gegenwärtige Wirklichkeit und ihre Probleme haben alle irgendwie miteinander zu tun, nicht nur wir sind vernetzt, sondern auch die vielfältigen Katastrophen und Beinahe-Katastrophen. Dazu kommt ein kleines Ensemble von fünf Schauspielern (Kaatie Akstinat, Linda Elsner, Jenny Langner, Roman Pertl und Patrick Rupar), die "paradies fluten (verirrte sinfonie)" von Thomas Köck einen Körper geben. Das darf man wörtlich nehmen. Denn die Inszenierung in der Augsburger Brecht-Bühne ist ein faszinierender Hybrid aus Schauspiel, Akrobatik, Tanzbewegungen und Performance.

Theater ist hier eine Versuchsanordnung, eine Visualisierung eines Textes, der eher ein dramatischer Essay als ein "Stück" ist. Eine eigentliche Handlung gibt es nicht, erzählt wird hier nichts, zumindest nicht im Sinn einer konventionellen Szenenfolge. Und andererseits wird alles erzählt. Denn die Schauspieler in hautfarbenen Ganzkörperanzügen, reduziert auf ein allgemeines, namenloses Menschsein, sind die anonymen Sprechkörper eines Erzähltheaters, oft auch als Kollektivstimme.    

Und wovon erzählen sie? Vom Ende der Sonne, von der Frühzeit des Kapitalismus und der Ausbeutung der Dritten Welt und dem Kautschukboom, von Henry Ford und der Massenproduktion, von einer ostdeutschen Familie in den "goldenen" 1990er-Jahren und ihrer Selbstzerstörung in der schönen neuen neoliberalen Wirklichkeit, sie erzählen von den freien Kräften des Marktes und der Demenz des Vaters.

Nicole Schneiderbauer zeigt Köcks Stück als Theater, das nur Sprache und zugleich massive Körperlichkeit ist, wenn die Schauspieler zum Teil meterhoch über den Zuschauern, an Seilen und Netzen, umgeben von Videoinstallationen turnen.  Man erlebt ein  kompliziertes, postmodern-selbstreferentielles Experiment; einseitig und radikal in seinem Blick auf die Welt (aber wer, wenn nicht Kunst, dürfte einseitig und radikal sein), fordernd, und in Augsburg so spannend umgesetzt, dass man selten ein Premierenpublikum so gebannt und so hoch konzentriert erlebt hat. 

Weitere Termine: 14., 20., 21., 27. Oktober, jeweils 19.30 Uhr. Kartentelefon: (08 21) 3 24 49 00.