Augsburg
Ein Traumgespinst

Zeitenwechsel in Augsburg: Mit dem "Freischütz" beginnt eine neue Intendanz Ersatzspielstätte eingeweiht

02.10.2017 | Stand 02.12.2020, 17:24 Uhr

Die Abgründe der Seele: Wolfgang Schwaninger als Max, Alejandro Marco-Buhrmester als Kaspar und Thaisen Rusch als Kilian in der klugen Inszenierung des "Freischütz" von Hinrich Horstkotte. - Foto: Fuhr

Augsburg (DK) Die schlimmsten Monster sind Kopfgeburten. Sie existieren nicht in der Realität, aber die Zerstörungskraft, die sie entfalten, ist erschreckender als alle Wesen dieser Welt. Es ist ganz so, wie Francisco de Goya es verstanden hat: "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer" hat er eins seiner Bilder genannt. In keiner Zeit war man sich dieser teuflischen Gewalt des Bösen bewusster als in der Romantik. Die Nachtseite des Lebens, das Reich der Albträume und Gespenster ist die große Entdeckung dieses sonst so biedermeierlich braven Zeitalters.

Kein Wunder, dass auch die erste deutsche romantische Oper, der "Freischütz" von Carl Maria von Weber, die Tiefen der menschlichen Psyche ausleuchtet - allerdings nicht so konsequent, wie es hätte sein können. Es ist ein Verdienst der Neuinszenierung der frühromantischen Oper am Theater Augsburg, die am Wochenende Premiere hatte, hier einen Schritt weitergegangen zu sein. Regisseur Hinrich Horstkotte hat die Oper fortentwickelt: Die Volksoper wurde zum Traumspiel. Das geschah so konsequent und intelligent, als hätte Carl Maria von Weber selber Hand angelegt.

Romantische Opern fangen am besten mit Gedanken, Fantasien, Hirngespinsten an. So sieht das Publikum noch während die Ouvertüre Landromantik und Wolfsschlucht-Entsetzen vorbeiziehen lässt den Jäger und Schreiber Max in seinem Zimmer am Schreibtisch lange Sätze formulieren. An der Wand projiziert sieht man seine Gedankenspiele, Agathe, deren Herz pocht, ein teuflisches Netzwerk und Blutkleckse über die Wand rinnen. Man spürt sofort: Das Raum-Zeit-Kontinuum ist hier surreal gekrümmt. Das ist nicht unsere Welt, sondern wir steigen in dieser Inszenierung tief in die Seelen-Abgründe des Jägers Max hinab.

Die bei Weber etwas wirr daherkommende Handlung um Max, der sich von Kaspar Freikugeln gießen lässt und dann fast seine Verlobte Agathe erschießt, weil jede siebte Kugel vom Teufel gelenkt wird - diese Geschichte bekommt plötzlich erstaunliche Plausibilität. Kaspar existiert bei Horstkotte nicht, er ist ein Hirngespinst in Max' Fantasie. Er tritt als dessen Doppelgänger auf, entsteigt seinem Bett, dem Ort der Träume, trinkt mit ihm und führt ihn mitternachts zur Wolfsschlucht. Die allerdings ist auch nur eine Ausgeburt des Wahns. In Wahrheit befindet man sich in Max' kleinem Biedermeierzimmerchen. Das jedoch bekommt Risse in den Wänden, verbiegt sich, Agathe huscht wie ein Geist über die Wände, die Bettdecke bläht sich auf, schließlich stürmen Jäger ins enge Zimmer mit dunklen Geweihen, als wären sie Hirschkäfer. Und ziehen ihre Masken von den Gesichtern, zeigen, dass sie alle Doppelgänger von Max sind. Das könnte kaum unheimlicher geschildert werden.

Am Ende muss Max seinen Probeschuss absolvieren, um Agathe heiraten zu können, und die Freikugel trifft scheinbar erst seine Verlobte, und dann bleibt sein Doppelgänger Kaspar tot am Boden liegen. Ein Happy End? Nicht bei Horstkotte. Denn die Gespenster der Psyche wird man nicht so leicht los. Die Doppelgänger, die unheimlichen Spiegelbilder der Seele, tauchen immer wieder unversehens auf. Der Eremit kommt, zeigt Verständnis, besänftig den wütenden Fürsten Ottokar. Aber das alles ist zu schön, um wahr zu sein. Die Menschen bewegen sich wie Traumtänzer, gelenkt vom Eremiten. Und schließlich stehen Max und er sich gegenüber, richten die Gewehre aufeinander. Der Eremit zieht die Maske ab, auch er ist ein Doppelgänger. Schüsse fallen, ein Doppelselbstmord.

Die Inszenierung wäre nicht so grandios, wenn sie nicht auch musikalisch so gelungen wäre. Der Augsburger Generalmusikdirektor Domonkos Héla leitet die in den vergangenen Jahren immer besser gewordenen Augsburger Philharmoniker mit Drive, Präzision und Feinschliff. Und er hat recht gute Sänger zur Verfügung. Ein Überraschungserfolg ist die gerade neu engagierte Sopranistin Jihyun Cecilia Lee als Ännchen, die mit leuchtender, überaus flexibler Stimme die witzigen Arien und Cavatinen gestaltet. Damit singt sie sogar Sally du Randt als Agathe an die Wand, deren Stimme für diese Partie ein wenig zu unbeweglich und schwer ist. Gute Darstellungen sind auch von dem Heldentenor Wolfgang Schwaninger als Max, vom Stephen Owen (Kuno), Thaisen Rusch (Kilian) und Alejandro Marco-Buhrmester (Kaspar) zu hören. Und gerade auch die kleinen Rollen sind vorzüglich besetzt: Stanislav Sergeev als Eremit und Wiard Witholt als Ottokar.

Das Gewicht, das auf dieser Produktion lastet, ist natürlich enorm. Sie ist nicht nur die Saisoneröffnung und der Beginn der ersten Spielzeit des neuen Intendanten André Bücker. Vielmehr ist der "Freischütz" auch die erste Premiere in der neuen Ausweichspielstätte Martini-Park. Hier wurde in einer rekordverdächtigen Umbauzeit von nur einem halben Jahr für 3,3 Millionen Euro eine Fabrikhalle in ein Theater mit 620 Plätzen verwandelt. Fünf Jahre lang soll es als Ersatz für das städtische Theater herhalten, das gerade saniert wird.

Der Beginn dieser neuen Ära hätte kaum besser gelingen können. Denn auch die Akustik in dem ehemaligen Fabrikgebäude mit seiner eher niedrigen Decke ist erstaunlich gut, klar, laut, mit wenig Hall. Und die neue Technik auf der eher kleinen Bühne funktioniert hervorragend. Ständig konnten mithilfe der Drehbühne neue Szenerien entwickelt werden - vom biedermeierlichen Zimmerchen zum Dachpanorama und zur Volksfestszene.

Das Theater Augsburg unter der neuen Intendanz hat sich viel vorgenommen. Es hat gezeigt, was es vermag. Und gewonnen.

Vorführungen im Oktober unter anderem am 5., am 8., am 13. und 18. Oktober. Weitere Informationen unter www.theater-augsburg.de" class="more"%>.