Achterbahn der Gefühle

30.05.2008 | Stand 03.12.2020, 5:52 Uhr

Ingolstadt (DK) London im Ausnahmezustand: In einer besonders heißen Juli-Woche 2005 ereignen sich innerhalb weniger Tage Dinge, die die Emotionen Achterbahn fahren lassen. Es beginnt mit dem größten Benefizkonzert aller Zeiten „Live8“ im Hyde Park und in weiteren Weltstädten gegen die Armut in der Welt; außerdem werden die Olympischen Spiele 2012 London zugesprochen. Im Moment des nationalen Massentaumels kommt es zum terroristischen Anschlag der Islamisten auf den Londoner Nahverkehr.

Der britische Erfolgsautor Simon Stephens hat sein Stück „Pornographie“, das jetzt im Rahmen der Bayerischen Theatertage in Ingolstadt als Gastspiel des Nürnberger Staatsschauspiels über die Bühne ging, genau ins überhitzte Gefühlschaos der Stadt gepflanzt. Grenzüberschreitungen. Und erzählt dabei in sieben weitgehend solitär stehenden Kapiteln verblüffend banale Alltagsgeschichten.
 
Grenzüberschreitungen, die in einem merkwürdig schillernden Licht erscheinen vor dem Kontrast der nationalen und internationalen Tragödien und Triumphe. Da sehen wir etwa einen alternden Universitätsdozenten, der die wirtschaftliche Abhängigkeit einer nur halb so alten Ex-Studentin sexuell ausbeutet. Wir erfahren etwas über das inzestuöse Liebesverhältnis eines Geschwisterpaars, über die Entfremdungsgefühle einer berufstätigen Mutter (Nicola Lembach), die nur ahnen kann, dass ihr Mann fremd geht und die sich von ihrem Chef nicht gewürdigt fühlt. In einem Moment der Rache, gibt sie Betriebsgeheimnisse per Fax an eine Konkurrenzfirma weiter. Wir sehen einen der Attentäter (Michael Hochstrasser), der mit nüchterner Präzision seinen Anschlag vorbereitet. Und da ist schließlich die alte Journalistin (wunderbar gespielt von Jutta Richter-Haaser), die in fast völliger Isolation lebt, bis der Terroranschlag sie zu einem langen Fußmarsch zwingt und zur Kontaktaufnahme mit einer Hähnchen grillenden Familie bewegt.
 
Ein Stück also, das so flach ist wie einige aufeinanderliegende Buchseiten, das aber von Regisseur Enrico Lübbe mit raumgreifender Tiefenschärfe inszeniert wird. Deshalb haben er und sein Bühnenbildner Hugo Gretler den unbehaglich düsteren Bühnenraum bis zur hinteren Betonwand ausgeräumt. Inmitten der bloßgelegten Theatermaschinerie, kalt beleuchtet von Neonlampen spielen sich die zusammenhanglosen Miniszenen doch oft nur an der Rampe ab: Die durchweg vorzüglich besetzten Theaterfiguren dialogisieren über weite Strecken nicht, sie erzählen dem Publikum vielmehr von ihrem Schicksal. Sie sind lebendig gewordene Shortstorys, Einpersonendramen. Am schockierendsten an diesem Stück über die kleinen Höllen des Alltags, die wir uns selbst inszenieren, ist der Titel: „Pornographie“. Aber der ist ausgerechnet ein Etikettenschwindel. Freundlicher Beifall für die guten Schauspieler im Großen Haus des Theaters.