Ingolstadt
"Grundlage für die liberale Demokratie"

Ein Gespräch über die Verteidigung der Privatsphäre und die Bedeutung der Freiheit in der digitalen Welt

06.03.2015 | Stand 02.12.2020, 21:34 Uhr

Ingolstadt (DK) Geräte, die wir am Körper tragen, spähen uns aus. Wir veröffentlichen private Informationen in sozialen Netzwerken. Und Firmen wie Google scheinen mächtiger zu sein als nationale Regierungen. Ein Gespräch über den Wert von Privatsphäre in der digitalen Welt und die Bedeutung von Freiheit mit Max-Otto Baumann vom John Stuart Mill Institut in Heidelberg.

 

Smartphones, die alle nur denkbaren Informationen ihrer Besitzer „nach Hause“ funken, vollständige Auswertung der digitalen Kommunikation und des Konsums – wie konnte es so weit kommen?

Max-Otto Baumann: In der digitalen Revolution greifen drei Faktoren auf relativ reibungslose Weise ineinander: Technik, Wirtschaft, Mensch. Durch die Miniaturisierung der Endgeräte dringt das Internet bis in die Ritzen unseres Lebens ein. Für die Wirtschaft ist der Datenhandel ein lukratives Geschäft, und das Internet und seine Anwendungen bedienen grundlegende menschliche Bedürfnisse nach Kommunikation, Vernetzung und Bequemlichkeit. Die Politik war bislang kein nennenswerter Faktor.

 

Warum sind persönliche Informationen so wertvoll für die Unternehmen?

Baumann: Profilbildung erlaubt eine individualisierte und damit effizientere Werbung. Darüber hinaus kann, wer den Kunden und seine jeweilige Situation kennt, dasselbe Produkt auch teurer verkaufen: Von Apple-Nutzern nimmt man zum Beispiel an, dass sie wohlhabender sind und sich guten Stil etwas kosten lassen; für sie kann ein Produkt schon mal doppelt so teuer sein wie für einen Lenovo-Nutzer.

 

In der Debatte zwischen Datenschützern auf der einen und Firmen oder Geheimdiensten auf der anderen Seite geht es oft um Freiheit. Doch was ist Freiheit überhaupt?

Baumann: Grundsätzlich unterscheidet die politische Theorie die negative Freiheit von Zwang und die positive Freiheit zur Selbstverwirklichung. Beide Aspekte sind wichtig: Die erste ist ein Abwehrrecht gegen andere, besonders den Staat, die zweite ein Anspruchsrecht, zum Beispiel auf Bildung und Teilhabe. Das Internet betrifft beide Aspekte: Datenschutz dient der Abwehr von Privatsphärenverletzung vonseiten des Staates, der Wirtschaft und der Mitmenschen. Aber das Internet ist auch ein Raum für Teilhabe und Selbstentfaltung.

 

Ist der Schutz der Privatsphäre nun also notwendig, um Freiheit zu schützen?

Baumann: Einige wenige Vertreter des Post-Privacy-Gedankens scheinen das zu verneinen. Grundsätzlich gilt jedoch, dass Privatsphäre ein zentrales Element der Freiheit ist. Die Privatsphäre eröffnet einen Bereich des selbstbestimmten Lebens. Sie bietet auch einen Rückzugsraum, um sich überhaupt erst politisch vernetzen, Ideen entwickeln und schließlich in der Öffentlichkeit artikulieren zu können. Das ist die Grundlage für die liberale Demokratie als jener Gesellschaftsform, in der wiederum Privatsphäre und Freiheit überhaupt nur möglich sind.

 

Riesige Rechenzentren und perfekte Persönlichkeitsprofile von Millionen Menschen – sind Google und Facebook mächtiger als Regierungen?

Baumann: Nun ja, die Staaten machen die Regeln, an die sich auch Unternehmen zu halten haben. Dass die EU-Datenschutz-verordnung die bislang größte Lobbyschlacht in Brüssel ausgelöst hat, zeigt, wie sehr die Internetwirtschaft die Politik fürchtet. In den USA haben Überwachungsdienste auch große Unternehmen zur Herausgabe personenbezogener Daten gezwungen. Die Macht der Unternehmen ist anderer Art: Sie schaffen unter gewiefter Ausnutzung von Regulierungslücken kurzerhand eine neue Realität, es entstehen milliardenschwere Märkte, und die Politik wagt es nicht mehr, dies zurückzuregulieren.

 

Oft wird postuliert, Privatsphäreschutz sei ein Bremsklotz für Innovationen. . .

Baumann: Ich tue mich schwer damit, dass manche Wirtschaftsmethoden, die auf Ausspähung beruhen, das Prädikat „innovativ“ bekommen. Wahrscheinlich würde ein hohes Datenschutzniveau für wirkliche Innovationen des Wirtschaftens sorgen. Wie in der digitalen Wirtschaft Selbstbestimmung und wirtschaftlicher Erfolg zusammengehen, sollte sicherlich noch intensiver erforscht werden, zumal wenn die Idee ist, ein europäisches Silicon Valley als Gegengewicht zur Internetdominanz der USA aufzubauen.

 

Wäre „privacy by default“, also hohe Datenschutzeinstellungen bei Geräten als Standard, eine Lösung?

Baumann: Implizit ist „privacy by default“ bereits im Bundesdatenschutzgesetz verankert, und zwar in den Prinzipien der Datensparsamkeit und der Einwilligung. Im Entwurf der EU-Datenschutzgrundverordnung werden datenschutzfreundliche Grundeinstellungen explizit verlangt. Justiziell steigt das Schutzniveau also. Die Frage ist, ob die Politik ausreichend starke Datenschutzbehörden bereitstellt, um die Einhaltung des Rechts zu kontrollieren. Bislang ist das nicht zu erkennen.

 

Viele Menschen veröffentlichen im Internet freiwillig sensibelste Informationen. Woher kommt dieses starke Bedürfnis, sich mitzuteilen?

Baumann: Betrachten Sie die gesellschaftlichen Trends: Die enorme Entfaltung des Individualismus, die steigende Zahl der Alleinlebenden, die zunehmende Mobilität – stabile soziale Bindungen sind ein rares Gut geworden. Der Soziologe Zygmunt Bauman hat davon gesprochen, dass heute die eigentliche Sorge nicht mehr ist, in seiner Privatsphäre verletzt zu werden, sondern nicht mehr wahrgenommen zu werden. So gesehen sind die sozialen Netzwerke Balsam. Es muss aber auch erwähnt werden, dass die Menschen hier vorsichtiger geworden sind. Es liegt überdies in der Natur des Internets, dass wir überproportional viel von denen wahrnehmen, die exhibitionistisch veranlagt sind.

 

Ist es möglich, ein soziales Leben in der digitalen Welt zu führen, ohne sich zu entblößen?

Baumann: Bei einem klugen Umgang mit sozialen Netzwerken kann man einiges tun, um seine Daten zusammenzuhalten. Zwar haben wir nur beschränkt Kontrolle darüber, was andere über uns sagen. Aber hier dürften sich soziale Normen der Datensparsamkeit und Einwilligung entwickeln. Sagen Sie Ihren Freunden, wenn diese ein Foto von Ihnen machen: „Bitte stell das nicht in Facebook oder zeig es mir vorher.“ Wenn das viele machen, wird es zu einer generalisierten Erwartung. Im Übrigen bietet digitale Kommunikation auch neue Rückzugsräume. Man kann vertraulich kommunizieren, über Privatsphäreneinstellungen andere Menschen ausgrenzen, neue Rollen testen etc. In gewisser Hinsicht stärkt die digitale Welt unsere Privatsphäre also auch.

 

Die Fragen stellte Tom Webel.