Berlin
Staatsaffäre um deutsche Geheimdienste?

26.04.2016 | Stand 02.12.2020, 19:54 Uhr

Berlin (DK) Es ist der 16. Juni 2014 - ein fast historischer Tag: Nicht weil die Fußball-Nationalmannschaft ihr erstes Spiel bei der Weltmeisterschaft in Brasilien bestreitet, die letztlich mit dem Titel für die deutsche Auswahl enden sollte. Viel bedeutender ist, was zeitgleich im Berliner Innenministerium vor sich geht. Die Mitarbeiter des neuen Referats "Spionageabwehr, Landesverrat, Wirtschaftsschutz, Proliferation, ABC-Kriminalität" nehmen ihre Arbeit auf. Sie sollen den Kampf gegen feindliche Spione koordinieren und prüfen, ob jemand Landesverrat begeht. Landesverrat ist eine der schwersten juristischen Keulen, die der Staat gegen Beschuldigte auspacken kann. Der Vorwurf genügt, um Verdächtige zu observieren oder ihre E-Mails mitlesen zu dürfen.

Ein Jahr, nachdem das Referat mit der Arbeit begonnen hat, spricht die Bundesrepublik schließlich wirklich über einen Fall von Landesverrat. Die Blogger von netzpolitik.org hatten im Internet geheime Haushaltspläne des Verfassungsschutzes veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass der Geheimdienst Personal einstellen will, um die sozialen Netzwerke stärker zu überwachen.

Wegen dieser Veröffentlichung erstattet der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, im Frühjahr 2015 Anzeige. Diese geht an Generalbundesanwalt Harald Range, der die lange unbenutzte Keule auspackt. Range eröffnet ein Verfahren wegen Landesverrats. Das Bundeskriminalamt wird mit den Ermittlungen beauftragt. Das Heikle daran: Im Anzeigetext steht ausdrücklich, die zitierten Dokumente hätten Abgeordneten vorgelegen, die in dem zur Geheimhaltung verpflichteten Vertrauensgremium des Bundestags sitzen.

Die Ermittlungen scheiterten schließlich. Bürger, Journalisten und Politiker empören sich. Justizminister Heiko Maas (SPD) geht auf Distanz zu Generalbundesanwalt Range, der letztlich seinen Posten räumt. Und Geheimdienstchef Maaßen? Er wird gehofft haben, dass die Telefonüberwachung und E-Mail-Auswertung im Zug der Ermittlungen gegen netzpolitik.org zutage fördern werden, wer die brisanten Pläne seines Hauses verbreitet hat.

Ging es dem einflussreichen Geheimdienstchef also gar nicht um die beiden Blogger hinter netzpolitik.org? Nach Auswertung von Dokumenten und Gesprächen mit Insidern kann man zu einem ganz anderen Schluss kommen: So könnten nicht etwa Journalisten das Ziel der juristischen Attacke gewesen sein, sondern gewählte Abgeordnete des Bundestages - genau jene, die mit der Kontrolle der Geheimdienste befasst sind.

Nur wenige Wochen nach seiner umstrittenen Anzeige tritt Hans-Georg Maaßen bei einem Symposium in Berlin zum Thema "Islamistischer Terrorismus" auf. Hier wird endgültig deutlich, dass er die Abgeordneten für Unsicherheitsfaktoren im Kampf gegen den Terrorismus hält. Im offiziellen Redemanuskript beklagt er, dass "geheimste Unterlagen aus dem Bereich der Nachrichtendienste in die Medien gelangen, sobald sie den politisch-parlamentarischen Bereich erreichen". Das zerstöre das Vertrauen in die Aufrichtigkeit der eingeforderten parlamentarischen Kontrolle und "beschädigt unsere Arbeit erheblich".

Man muss sich diese Worte auf der Zunge zergehen lassen, um ihr wahres Gewicht zu erkennen: Maaßen hält die Abgeordneten, die seine Arbeit kontrollieren, für Tratschtanten, die die Sicherheit Deutschlands gefährden und daher nicht sein Vertrauen genießen. Selten hat ein Geheimdienstchef so klar vor Publikum seine Abneigung gegen die parlamentarische Kontrolle bekundet.

Kein Wunder, dass sich viele Abgeordnete über die Vorwürfe erzürnen. Auch der frühere Abgeordnete Hans de With ist sauer. Er hat von 1999 bis 2014 der sogenannten G 10-Kommission angehört - jenem Ausschuss, der zustimmen muss, wenn die Geheimdienste Verdächtige abhören. Der Sozialdemokrat ist verwundert, als er von den Aussagen Maaßens hört. "Die Rede kann den Eindruck erwecken, dass dem parlamentarischen Bereich geheime Unterlagen aus Gründen der Sicherheit besser nicht ohne Weiteres übergeben werden sollten", sagt de With. Ihm sei aber kein einziger Fall bekannt, in dem geheime Dokumente aus den Kontrollgremien an die Medien durchgereicht wurden. Maaßen solle seine Aussagen belegen. "Oder aber sich berichtigen, falls ihm Beweise nicht vorliegen."

Auf Anfrage lässt Hans-Georg Maaßen ausrichten, er stehe für ein Interview nicht zur Verfügung. Maaßen lehnt es schlichtweg ab, seine Vorwürfe gegen Abgeordnete zu begründen oder über seine Rolle in der Affäre um netzpolitik.org zu sprechen. Hätte er mit seinen Vorwürfen recht und könnte er die Unzuverlässigkeit der Abgeordneten beweisen, könnte die Bundesregierung daraus das Recht ableiten, dem Parlament Geheimnisse vorzuenthalten. In einem Urteil aus dem Jahr 1984 hat das Bundesverfassungsgericht jedoch entschieden, dass die Bundesregierung dem Bundestag keine Geheimnisse vorenthalten darf - wenn sichergestellt ist, dass "beiderseits wirksame Vorkehrungen gegen das Bekanntwerden von Dienstgeheimnissen getroffen wurden". Gelänge nun der Nachweis, dass netzpolitik.org systematisch geheime Informationen "aus dem politisch-parlamentarischen Bereich", wie Maaßen sagt, erhalten habe, gäbe es eine neue Situation. Und die Karlsruher Richter könnten im nächsten Fall vielleicht anders entscheiden - also gegen das deutsche Parlament.

Die Auseinandersetzung zwischen Abgeordneten und Geheimdiensten ist in Berlin ohnehin hochaktuell und durchaus brisant, weil die Bundesregierung dem Parlament derzeit geheime Unterlagen verweigert. Es geht um die Selektorenliste des US-Geheimdienstes NSA. Anhand dieser Liste erkennt man, mit welchen Suchbegriffen die NSA mithilfe des Bundesnachrichtendienstes in Deutschland spioniert hat. Das Kanzleramt besitzt diese Liste. Das Parlament hat sie nicht.

Inzwischen befasst sich ein Untersuchungsausschuss mit der Abhörpraxis der US-Geheimdienste in der Bundesrepublik. Im Oktober 2015 kommen die Mitglieder zu einer öffentlichen Sitzung zusammen. Auch der ehemalige BND-Präsident August Hanning ist geladen. Stundenlang steht der große, weißhaarige Mann den Abgeordneten Rede und Antwort. Nach der Sitzung lässt Hanning sich auf ein kurzes Interview ein. Er wettert los: "Die Öffentlichkeit und das Parlament haben kein Verhältnis zur Sicherheit." Frage: Gilt das auch für den Fall netzpolitik.org? "Das ist eine Kultur der Durchstecherei. Geheime Akten landen bei Abgeordneten und werden weitergegeben. Die sind noch stolz darauf. Maaßen wollte über diesen Fall vor dem Bundesverfassungsgericht klären lassen, dass der Geheimschutz der Regierung nicht derselbe sei wie der Geheimschutz des Parlaments", so Hanning.

Hanning wirkt enttäuscht, dass die Ermittlungen im Fall netzpolitik.org nach hinten losgingen. Er sagt, er kenne auch die Schuldige, an der die Strategie des BND gescheitert sei: Angela Merkel (CDU). Sie habe die Ermittlungen der Beamten gestoppt. Die Kanzlerin habe keine Achtung vor den Diensten, fügt Hanning hinzu. Ob Merkel die treibende Kraft war, die die Affäre gestoppt hat, lässt sich nicht sagen. Das Kanzleramt verweigert jeden Kommentar.

Ebenfalls im Oktober 2015 lädt die Friedrich-Ebert-Stiftung zu einer Tagung über die "Kontrolle der Geheimdienste" ein. Auch Klaus-Dieter Fritsche, Staatssekretär im Kanzleramt, nimmt teil. Er ist zuständig für die Koordination der Geheimdienste. "Wir können nicht arbeiten, wenn Dinge, die wir an geheimen Tagungen im Kontrollgremium sagen, am nächsten Tag in der Presse stehen", klagt Fritsche. Hält auch er die Abgeordneten für notorisch unzuverlässig? "Ich habe keine Beweise. Wenn ich Beweise hätte, dann hätten wir sie." Gemeint sind die Abgeordneten des Falls netzpolitik.org. Denn nach Fritsches Ansicht müssten sich die Abgeordneten das "Vertrauen € der Geheimdienste erwerben. Ein Gedanke, der die parlamentarische Kontrolle letztlich auf den Kopf stellen würde.

Heißt das alles nun, dass die Suche nach einer undichten Stelle in den parlamentarischen Kontrollgremien lange geplant war und netzpolitik.org nur ein Mittel zum Zweck war, um den BND aus der Kontrolle zu befreien? Dafür spricht die Einrichtung des eingangs erwähnten Referats im Innenministerium. Und: Der Umbau im Innenministerium hat einen langen Vorlauf. Bereits im August 2012 wurde eine einschlägige Stabsstelle eingerichtet - es war die Zeit von Wikileaks und damit des Geheimnisverrats im großen Stil. ‹ŒKommentar Seite 2

 

Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit Correctiv entstanden. Correctiv ist ein gemeinnütziges Recherchebüro, das sich zum Ziel gesetzt hat, Bürgern Zugang zu wichtigen Informationen zu bieten.