Bei
Der "Große Bruder" im Internet

07.07.2013 | Stand 02.12.2020, 23:56 Uhr

George Orwell arbeitete in den 1940er Jahren als Journalist - Fotos: oh

Bei dem Internet-Buchhändler Amazon USA gibt es einen überraschenden neuen Kassenschlager: Die Nachfrage nach der Jubiläumsausgabe des 64 Jahre alten Klassikers „1984“ von George Orwell schoss binnen eines Tages um über 7000 Prozent in die Höhe. Das plötzliche Interesse an der Anti-Utopie fiel mit den Enthüllungen über das geheime US-Spähprogramm Prism zusammen.

Kein Wunder: Die amerikanische Presse tobt und beschreibt Präsident Barack Obama als „Orwell-Präsidenten“. Ist der britische Autor also aktuell wie nie?

In der Tat hat nie jemand zuvor oder danach einen entmenschlichten Überwachungsstaat so plastisch und so packend beschrieben wie Orwell. Ihm gelang der Roman schlechthin über den Totalitarismus. Es lohnt sich also, dieses Buch aus dem Jahr 1949 wieder einmal hervorzuholen.

Und dabei zu erschrecken. Denn allzu vieles von dem, was Orwell anprangert, ist längst Wirklichkeit – sogar in den westlichen, demokratisch gefestigten Staaten wie Großbritannien oder den USA. Dass in totalitären Staaten wie Hitler-Deutschland, der stalinistischen UdSSR, Nordkorea oder China grundlegende Bürgerrechte keine Chance haben und die Menschen von Geheimdiensten bespitzelt werden, ist längst bekannt. Verblüffend und entsetzend ist aber, dass dies klammheimlich sogar in westlichen Staaten geschieht. Und zwar in einem Ausmaße, das bisher kaum für möglich gehalten wurde. Auch die USA, Frankreich, Großbritannien und vielleicht noch andere demokratische Länder sind längst Supermächte der Spitzelei. Die persönlichen Freiheiten, die Privatsphäre waren noch nie so bedroht wie heute. Orwells böse Vision ist erschreckend aktuell.

Dabei hat Orwell, der eigentlich Eric Arthur Blair hieß, natürlich keinen typischen Science-Fiction-Roman geschrieben. Er handelt weniger von der Zukunft, als von der Gegenwart. Deshalb auch der Titel seines Buches: Orwell ging vom Fertigstellungsdatum seines Romans aus, 1948, und vertauschte die beiden letzten Ziffern. Die Horrorvision bezieht sich auf die damalige Welt, auf den beginnenden Kalten Krieg, die Auswüchse des Stalinismus, den gerade untergegangenen Hitler-Faschismus.

In „1984“ wird eine trostlose Gesellschaft ohne Privatsphäre, ohne alle Freiheit beschrieben. Drei verfeindete Machtblöcke haben sich die Welt aufgeteilt, der Held des Romans, Winston Smith, lebt in Oceanien, regiert von einem nie wirklich sichtbaren „Großen Bruder“. Eine allgegenwärtige Gedankenpolizei überwacht permanent die gesamte Bevölkerung: „Big brother is watching you.“ Mittel der Bespitzelung sind 1948 noch ziemlich neuartige, nicht abschaltbare Fernsehgeräte, die nicht nur senden, sondern auch abhören und filmen. Widerstand wird bereits auf der Sprachebene unmöglich gemacht. Denn die herrschende Partei hat die Sprache gereinigt und ersetzt durch Neusprech. So existieren bestimmte Begriffe wie „Freiheit“ nicht mehr. Die Hauptfigur Smith arbeitet ironischerweise im „Ministerium für Wahrheit“ und muss dort ständig historische Zeitungsberichte umschreiben, sodass sie zur gerade aktuellen Parteilinie passen.

Aber Smith ist freiheitsliebend, er will Widerstand leisten. Er versucht Kontakt mit der Untergrundbewegung aufzunehmen, gerät dabei aber an einen Spion, der ihn ausliefert. Im „Ministerium der Liebe“ wird er gefoltert und einer Gehirnwäsche unterzogen. Am Ende glaubt er, seine Liebe zum „Großen Bruder“ gefunden zu haben und hält sich für frei.

In den 65 Jahren seit Fertigstellung des Romans sind wir dieser freudlosen Welt ein Stück näher gerückt. Vor allem der „Große Bruder“, auch wenn er nicht auf Plakaten an den Hauswänden uns nachschaut, ist inzwischen allgegenwärtig. Möglich gemacht hat das besonders der technische Fortschritt. Die Parteielite in Orwells „1984“ würde sich die Hände reiben, hätte sie Internet und Smartphone, Suchsysteme und Glasfaserkabel zur Verfügung gehabt.

Heute gibt es kein allmächtiges Medien-Monster, das uns kontrolliert, sondern die Menschen liefern sich leichtfertig selbst der Überwachung aus. Bereitwillig tragen die Nutzer des World Wide Webs ihre intimen Gedanken, Wünsche, Vorlieben bei Anbietern wie Facebook und Twitter ein. Amazon, Google und andere Firmen im Netz registrieren und speichern jeden Klick, jede Seite, die wir ansteuern, jeden Konsumartikel, bei dem wir auch nur überlegen, ihn zu kaufen. Smartphones und deren Hersteller orten, wo wir uns Tag für Tag aufhalten. Mit komplexen Algorithmen und genug Informationen vorausgesetzt, können Computer bereits mit einer beträchtlichen Wahrscheinlichkeit vorhersagen, wie wir uns in bestimmten Situationen in Zukunft entscheiden werden. Im Internet werden wir endgültig zu gläsernen Wesen – und dazu bedarf es nicht einmal einer ständig aktiven Überwachungskamera im Wohnzimmer. Der Staat braucht sich nur noch zu bedienen – indem er große Internetfirmen wie Google oder Apple zwingt, einen Blick in ihren Datenschatz zu gewähren – wie Prism in den USA. Oder er zapft die Informationen gleich selbst von den transatlantischen Datenkabeln ab – wie der britische Geheimdienst mit seinem Programm Tempora.

Aber auch auf anderem Gebiet nähern wir uns Orwells Albträumen. So nehmen sich staatliche Stellen seit dem 11. September 2001 immer mehr Rechte, in die Privatsphäre einzudringen, mit zehntausenden Kameras den öffentlichen Raum zu überwachen, Telefone, Mails und Internet-Datenverkehr auszukundschaften. Und das allzu oft ohne richterliche Genehmigung. Ob all diese Maßnahmen wirklich etwas bewirken im Kampf gegen den Terrorismus, ist längst nicht geklärt. Noch arbeiten die Geheimdienste in den westlichen Ländern im Auftrag demokratisch legitimierter Regierungen. Aber wird das immer so bleiben? Was geschieht mit dem schier nicht mehr zu überblickenden Schatz an Informationen über die Bürger, wenn eines Tages einmal die demokratischen Regierungen von weniger freiheitlich orientierten Herrschern abgelöst werden?

Und sind in demokratisch verfassten Staatssystemen derartige Überwachungspraktiken langfristig juristisch überhaupt zu rechtfertigen? Passt das absichtliche Aushöhlen der bürgerlichen Freiheiten, insbesondere der Privatsphäre, überhaupt zu dem Anspruch, die Würde des Menschen zu schützen? Wohl kaum. Die Gefahr des Missbrauchs wird unweigerlich größer. Ein Staat, der geheime Daten über seine Bürger besitzt, die weit umfassender sind als alles, was KGB oder Stasi jemals über ihre Bürger sammelten, könnte allzu leicht zur Diktatur umkippen. Der Schritt vom Staat als allwissender Datenkrake hin zur totalitären Diktatur ist klein. Eine Regierung, die heimlich das Recht auf Privatheit missachtet, ist womöglich auch zu anderen Verletzungen der Freiheitsrechte fähig. Dann würde eines Tages der Orwellsche Schreckensstaat Wirklichkeit werden.

Der Brite hat in seinem auch sprachlich sehr sensibel geschriebenen Roman hellsichtig auf diese Gefahren aufmerksam gemacht. Vielleicht war er deshalb so überzeugend, weil er auch selbst Opfer von Bespitzelungen gewesen ist. Den Autor, der vor 110 Jahren als Sohn eines Kolonialbeamten im indischen Motihari geboren wurde, überwachte der britische Staatsschutz jahrelang. Im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte er auf der Seite der Linken und wurde doch von Stalinisten drangsaliert und bedroht. Dort machte er die prägenden Erfahrungen für seinen berühmten Roman. Orwell hatte am Kampf gegen Franco teilgenommen und erlebte Stalinisten, die eine Art Bürgerkrieg im Bürgerkrieg führten. Die Kommunisten schossen 1937 ihre anarchistischen und sozialistischen Verbündeten nieder und etablierten eine Art KGB-Zwangsstaat. Und auch damals bereits wurde in der Sowjetunion die Vergangenheit in den Zeitungsarchiven in Katalanien umgeschrieben oder gelöscht, genau das, was Winston Smith, der Held von „1984“ Tag für Tag im „Ministerium für Wahrheit“ tut. Damit keine weißen Stellen in den Zeitungen erschienen, wurden sie mit nichtssagenden Meldungen aufgefüllt.

Im Zweiten Weltkrieg arbeitete Orwell für die alliierte Propaganda und machte ernüchternde Erfahrungen, die er später für seinen berühmten Roman nutzte. 1943 kündigte der sein Leben lang sozial engagierte Autor angewidert und wurde Kriegsberichterstatter in Deutschland. 1945 hatte er seinen Durchbruch als Schriftsteller mit der kommunismuskritischen Satire „Farm der Tiere“.

In den letzten Jahren seines Lebens, als er an „1984“ schrieb, wurde er selbst zu einer Art Schnüffler. Denn er schrieb Listen von Leuten, die er Krypto-Kommunisten nannte. Er fürchtete, dass die britische Demokratie unterwandert werden könnte. Nichts bekämpfte der damals schon schwer tuberkulosekranke Mann so vehement wie den Stalinismus. 1950 starb Orwell.

Seine Geschichte vom Überwachungsstaat treibt uns indessen bis heute um. Auch wenn der „Große Bruder“ längst ins Internet abgewandert ist. Man sieht ihn immer noch nicht, aber er ist da.