Würzburg
"Es geht um ganz Deutschland"

Der radikale Protest iranischer Flüchtlinge weitet sich von Würzburg auf andere Städte aus

05.07.2012 | Stand 03.12.2020, 1:18 Uhr

Protest im Zelt: Rund ein Dutzend Iraner demonstrieren in Würzburg für ihre persönliche Anerkennung als politische Flüchtlinge sowie Erleichterungen bei der Asylpraxis in Deutschland - Foto: Huber

Würzburg (DK) Es ist 10 Uhr, als Mohamad Kalali gestern die Fäden an seinen Lippen durchtrennt. Als letzter von ursprünglich fünf Demonstranten mit zugenähten Mündern. Er wolle wieder reden und mit den anderen kämpfen, sagt er. Am 4. Juni hatte sich Kalali mit vier Stichen den Mund zugenäht. Aus Protest gegen die seiner Meinung nach unmenschlichen Zustände für Asylbewerber in Deutschland. Seit Wochen begehren iranische Flüchtlinge in Würzburg auf.

Im Protestcamp auf dem Marktplatz herrscht gestern so etwas wie Optimismus. Mittags sitzen die Demonstranten unter dem Zeltgestänge mit der grün-weiß gestreiften Plane. Aus einem MP3-Player dudelt iranische Popmusik. Eine gute Nachricht hat die Runde gemacht. Vier weitere Asylanträge seien bearbeitet, heißt es. Ein Arzt, der die Gruppe betreut, hat die Information vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bekommen. Anerkennung? Dauerhaftes Bleiberecht? So genau weiß es keiner. Aber wenigstens tue sich was.

Mohamad Kalali, dunkler Vollbart, blaugrüne Augen, sitzt auf einem Campingstuhl vor dem Zelt. Er ist abgemagert. Als letzter der Demonstranten ist er im Hungerstreik. Am 18. März beschlossen acht Iraner, aus Protest nichts mehr zu essen. Ihnen geht es um die Bürokratie. Manchmal dauert es Jahre, bis ein Asylantrag bearbeitet und vor Gericht verhandelt ist.

Außerdem protestieren die Iraner gegen die Unterbringung. In Bayern müssen die Flüchtlinge bis zur Anerkennung in Gemeinschaftsunterkünften leben. Manche sind marode und weit ab vom Schuss. Ihren Landkreis dürfen die Flüchtlinge nicht verlassen. Auch Geld verdienen dürfen sie nicht. Um sich zu verpflegen, bekommen sie Essenspakete. Im Januar erhängte sich in Würzburg ein Iraner in seinem Zimmer. Weil er den Schwebezustand nicht mehr ertragen habe, sagen seine Bekannten.

Der Protest in Würzburg entwickelte sich zu einem Nervenkrieg. An einem Tag wurde ein Teil der Flüchtlinge anerkannt, der Hungerstreik wurde ausgesetzt. Andere Verfahren stockten dann offenbar wieder. Vor einem guten Monat eskalierte die Situation. Immer mehr Iraner nähten sich die Münder zu. Und das mitten in der Stadt, wo täglich hunderte Menschen vorbeilaufen. Mohamad Kalali trank sogar einige Zeit kein Wasser mehr.

Die Stadt ist wenig begeistert von der Form des Protests. Das Rathaus liegt nur zwei Ecken vom Camp entfernt. Vor der Tür sitzt Alexander Hoffmann in der Sonne. Der Mann in Anzug und gestreifter Krawatte ist der Chef der städtischen Versammlungsbehörde. „Man merkt in der Bevölkerung ein Vermeideverhalten“, sagt er. Wo die Iraner protestierten, wollten sich die Bürger nicht mehr aufhalten. Anwohner fühlten sich belästigt, Geschäftsleute klagten über Umsatzeinbußen. Mehrmals mussten die Demonstranten umziehen. Hoffmann spricht auch von „Versammlungstourismus“, weil viele Demonstranten aus anderen Städten kommen. Einige haben die Gruppe nach ihrer Anerkennung längst verlassen, neue sind hinzugekommen.

Die Stadt versuchte, vor Gericht gegen den Protest vorzugehen. Kein Mannschaftszelt mit Kühlschränken und etlichen Feldbetten, lautet die Forderung. Und vor allem: kein Protest mit zugenähten Lippen. Was die Versammlungsausstattung angeht, hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof der Stadt Recht gegeben. Aber die Flüchtlinge dürfen sich weiter die Lippen vernähen. Dass sie nun freiwillig darauf verzichten, sei eine „gute Nachricht“, sagt Hoffmann. Die Frage ist nur: wie lange? Die Demonstration in Würzburg ist bis zum 16. August angemeldet. Und in den vergangenen Tagen hat der Protest auf andere Städte übergegriffen. Auch in Aub bei Würzburg und in Bamberg wird demonstriert. Kalali, über dessen abgelehnten Antrag nun vor Gericht entschieden wird, will weitermachen. Und mit ihm viele andere. Es gehe um die Flüchtlinge in ganz Deutschland, sagt Kalali. Er selbst werde bald in Regensburg weiterdemonstrieren.