Regensburg
Stricken liegt im Trend: Die neue Wolllust

10.09.2015 | Stand 02.12.2020, 20:49 Uhr

Foto: DK

Regensburg (DK) Nadeln klappern. Spinnräder surren. Fäden laufen durch die Finger. Sanft, weich und leise. Masche für Masche strickt sich Deutschland in die Entspannung. In Wohnzimmern, Cafés und Parks, in Zügen und auf Festivals – wie dem Wollfest in Regensburg.

Früher gehörten die Handarbeiten noch zum Lehrplan. Doch irgendwann hörten die Nadeln auf zu klackern, Spinnräder und Webstühle standen still und an Häkeln und Filzen dachte niemand mehr. Seit ein paar Jahren erleben Selbermachen und Handarbeiten eine Renaissance. Wer hätte das gedacht? Die neue Wolllust begeistert rund um den Erdball – das verstaubte Image hat sie längst abgelegt. „Wer heute strickt, spinnt oder häkelt, ist meist gut ausgebildet, verdient gut und sucht den Ausgleich zur Arbeitswelt“, sagt Katrinette Bodarwé, Oberstudienrätin am Von-Müller-Gymnasium und Organisatorin des ersten „German Raveler Meetings“ in der Regensburger Schule. 700 Besucher waren zu dem Wollfest am vergangenen Wochenende gekommen.

7000 Mitglieder hat die deutsche Abteilung der internationalen Plattform für Handarbeiten „Ravelry“, fünf Millionen Freunde sind es weltweit. Für die Gymnasiallehrerin ist das soziale Netzwerk der ideale Ort, sich auszutauschen und den Faden nicht zu verlieren. „Ravelry“ ist eine Art „Facebook“ für die Handarbeits-Community, kombiniert mit speziellen Datenbanken für Garne, Anleitungen und Projekte.

Dabei kam die Mathematiklehrerin eher auf Umwegen zur Masche. „Eigentlich habe ich über die Sozialgeschichte der Frauen den Faden aufgenommen“, sagt sie. Das, was heute zum Lifestyle-Event wird, war lange Zeit mühsamer Broterwerb armer Land- und Stadtfrauen. „Später im 19. Jahrhundert stand der erzieherische Aspekt im Vordergrund. Man wollte die Damen mit Stricken, Sticken und Spinnen an das Haus binden, sie ruhigstellen und zu ,sittlichen Fräulein’ erziehen“, erklärt die promovierte Historikerin. Weil die Frauen sich aber schon damals beim Klappern der Nadeln und dem Surren der Spinnräder viel zu erzählen hatten, wurden die Spinnstuben Ende des 19. Jahrhunderts geschlossen. „Man wusste ja nicht, was die Frauen da so reden und aushecken“, erzählt Bodarwé. Einige wenige Vorreiterinnen heutiger Strickzirkel oder Bloggerinnen gab es aber schon im 19. Jahrhundert. 1833 veröffentlichte die „Industrielehrerin“ Juliane Paucker ihr erstes Strickmusterbuch im Verlag Pustet. Ein Riesenerfolg.

Heute sind es Akademikerinnen wie Katrinette Bodarwé, die zur Spindel oder Stricknadel greifen. Auch Männer lassen sich von der Wolle begeistern. Uwe Weißmann von der Spinngilde in Prien spinnt seit acht Jahren die Garne für seine Hemden selber. Anschließend webt er den Stoff. „Das ist für mich Entspannung pur“, sagt er. Gleichmäßig bewegen sich Füße und Hände am Spinnrad. Geschmeidig gleitet der Wollfaden durch seine Hände.

„Wie Yoga, nur mit einem Ergebnis“, kommentiert Bodarwé das Spinnen. Den Effekt der Entschleunigung hat sogar die Wissenschaft bestätigt. Eine Studie der Harvard Medical School in den USA kam zu dem Ergebnis: Das monotone rhythmische Klackern der Nadeln ist ebenso erholsam wie Yoga: Es baut Stress ab und senkt den Blutdruck. „Stricken entspannt“, sagt auch Michael Vorwerk auf dem Wollfest. Am liebsten strickt der Münchner im Stau auf der Autobahn. So vermascht er fast neun Kilometer Sockenwolle pro Jahr. An die 25 Paare sind das.

Wer wie er vom Stricken nicht genug kriegt, aber schon Freunde, Kinder und Tante Lieschen mit seinen Wollwerken bedacht hat, der kann auf der Plattform „Etsy“ die ganze Welt beglücken. Das amerikanische Portal war die erste große Plattform, die sich den neuen Trend zunutze machte und ihn nun ungebrochen weiterbefeuert. Nicht nur mit wachsenden Verkaufszahlen selbst hergestellter Produkte, sondern auch mit eigenen „Labs“ (Laboratorien) in den Großstädten, mit Workshops, Kursen und zahlreichen Präsentationsmöglichkeiten.

Ob reines Hobby oder Geschäftsidee – entscheidend ist das Haptische, Sinnliche und das Gesellige.

Daraus entstehen nicht nur zahlreiche Strick- und Wollfestivals. Von New York über Leipzig, Regensburg, Backnang und die Schweiz bis nach Kopenhagen oder auf die kleine dänische Insel Fanoe reicht das Netzwerk der weltweit verwobenen „Do-it-your-self“-Bewegung. Sie reicht vom „Urban-Knitting“, das liebevoll Parkbänke und Laternenmasten umgarnt, über Sockenrausch im Internet bis zum „Zug-Socking“: Wenn die „Oberpfälzer Stricklieseln“ im Zug strickend durchs Bayernland zuckeln, sorgt die Masche für Aufsehen. Wer Mützen, Schals und Jacken strickt, ist sein eigener Designer. Selbermachen ist edel, chic, kreativ und ganz und gar einzigartig.