Regensburg
Stehgreif oder Stegreif?

19.06.2013 | Stand 03.12.2020, 0:00 Uhr

Die deutsche Sprache ist seine Leidenschaft: Christian Stang unterrichtet Studenten der Universität Regensburg in korrekter Rechtschreibung. - Foto: Ingenthron

Regensburg (DK) Er ist ein wandelndes Lexikon. Schreibt man Billiard oder Billard, Kreissaal oder Kreißsaal, Stehgreif oder Stegreif? Man braucht nur Christian Stang, den Orthografieexperten der Universität Regensburg, zu fragen.

Stang weiß, warum Infinitivsätze wie „Er traut sich nicht, das Buch zu lesen“ ein Komma verlangen. Warum die Präposition „wegen“ den zweiten Fall nach sich zieht, also „wegen des Wetters“ und nicht: „wegen dem Wetter“. Und warum man „anscheinend“ und „scheinbar“ nicht verwechseln sollte. Stang sagt: „,Anscheinend’ drückt die Vermutung aus, dass es so ist, wie es zu sein scheint. Scheinbar hingegen sagt, dass etwas nur dem äußeren Eindruck nach, nicht aber tatsächlich so ist. Beispiel: Scheinbar war der Riese kleiner als der Zwerg. In Wirklichkeit ist er es aber nicht.“

Jeden Morgen beantwortet Stang Fragen wie diese: „Darf man seinem Chef ,Liebe Grüße’ schicken“ Der Sprachexperte rät davon ab. „Das ist nicht förmlich genug.“ Auch mit ,Hallo’ würde er seinen Vorgesetzten lieber nicht anschreiben und besser auf das althergebrachte ,Sehr geehrter’ zurückgreifen, schreibt er einer Lehrerin. Fragen wie diese schlagen täglich per Mail in seinem Büro auf. Bevor er sich aufmacht in die Seminarräume und seine Kurse abhält, hat er schon die ersten Lektionen erteilt.

Stang unterrichtet Fremdsprachler, Sekretärinnen und Studenten in der korrekten Anwendung der deutschen Sprache. Seit fast zwei Jahren lehrt er an der Universität, sein Fachbereich heißt „Sprache und Kommunikation“, seine Abteilung „Orthografie- und Normberatungsstelle“. Mittlerweile erbitten auch Germanisten, Doktoranden und angehende Deutschlehrer seinen Rat. Er ist eine Instanz in Sachen Rechtschreibung. Sogar Papst Benedikt XVI. gehörte zu seiner Kundschaft. Stang las dessen Schriften Korrektur.

Dabei hat der 38-Jährige nicht einmal Abitur. Von Berufs wegen ist Stang Postbeamter, der nach 20 Jahren im Dienst an die Uni abgeordnet wurde. Er selbst nennt sich deshalb schon einmal „Exot unter den Gelehrten“, weil er eine Ausnahme im akademischen Betrieb ist: ein Dozent ohne Abitur und Hochschulabschluss. Das kommt so gut wie nie vor. Die Schule schloss Stang mit der Mittleren Reife ab. Seine Studenten schätzen ihn, weil er komplexe Sachverhalte einfach und korrekt erklären kann.

Seit seinem zehnten Lebensjahr beschäftigt sich der Sprachliebhaber mit Fragen zur Rechtschreibung, Grammatik und Semantik. „Weil es ursprünglich mein Hobby war“, sagt er. Als seine Mitschüler Bravo lasen, fing er mit 15 Jahren an, die Sprachzeitschrift „Muttersprache“ zu abonnieren. Mit 18 machte er die Redaktion eines Rechtschreibhandbuchs auf ihre Fehler aufmerksam. Das war der Durchbruch. Die Redaktion lud ihn daraufhin ein, selbst ein Rechtschreibbuch zu schreiben.

Stang, der Sprachliebhaber, hat keine Erklärung dafür, warum er sich so sehr für Orthografie interessierte. „Da gab es kein spezielles Aha-Erlebnis“, sagt er. Aber es müsse damit zu tun gehabt haben, dass Sprache so etwas Alltägliches war. „Ich wollte wissen, welches System dahintersteckt.“

Inzwischen hat Stang an etwa 30 Sprachbüchern mitgearbeitet oder selbst geschrieben – für renommierte Verlage wie Hueber, Humboldt oder Langenscheidt. Als sein Buch „Duden: Deutsche Rechtschreibung – kurz gefasst“ ein Bestseller wurde, ist er zum Orakel für jedwede Sprachfragen aufgestiegen.

In Zeiten von Rechtschreib- und Leseschwäche, nicht nur bei Kindern, sondern auch Erwachsen, scheint jemand wie Stang nötiger denn je. Es stellt sich aber die Frage, ob denn wirklich alles schlimmer geworden ist? Stang, das personifizierte Lexikon, will es nicht so pauschal sehen. „Der große Schreibverfall ist es nicht, auch nicht der Untergang des Abendlandes. Sprache verändert sich fortlaufend“, sagt er stattdessen. Daran hätten vor allem die neuen Medien ihren Anteil. Die Kommunikation sei schneller, aber auch komplexer geworden.

Deshalb müsse auch mehr auf die Sprache geachtet werden. „Je schneller, desto genauer sollte es sein“, sagt Stang. „Ich bin kein Oberlehrer“, meint er. Aber die Richtigkeit von Sprache dürfe nicht verloren gehen, „sonst läuft Kommunikation schief.“

Stang lässt sich nicht auf die Liebe zur Rechtschreibung reduzieren. Er ist ein Mann des Wortes und der stilistisch versierten Sprache. „Größer als, nicht größer wie“, erklärt er, „ist auch ein Beispiel für das, was immer wieder falsch gemacht wird.“ In Zeiten von Internet, SMS, E-Mail und Skype ist er ein laufender Anachronismus, ein Sprachpfleger und -wächter. Übrigens: Richtig geschrieben ist jeweils die zweite Version der an Beginn dieses Artikels aufgezähltenWörter.