Passau
Ein Europa der zwei Meinungen

Der deutsche Außenpolitiker Horst Teltschik und Ungarns Regierungschef Viktor Orbán debattieren über die Flüchtlingskrise

25.10.2017 | Stand 02.12.2020, 17:18 Uhr

Im Streitgespräch: Horst Teltschik, einst enger Vertrauter Helmut Kohls (links), und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán (rechts) nahmen kein Blatt vor den Mund. ARD-Chefredakteur Thomas Baumann moderierte die Debatte. - Foto: Schlegel

Passau (DK) Geklatscht wurde wenig an diesem Abend. Gelacht noch viel weniger. Gebannt verfolgen die rund 500 Zuschauer im Passauer Medienzentrum die Debatte im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Menschen in Europa" zwischen zwei europäischen Charakterfiguren. Auf der einen Seite Horst Teltschik, seinerzeit enger Vertrauter Helmut Kohls, Muster-Europäer alter Schule, gestählt in endlosen Reformdebatten über die europäische Integration. Er war Kohls rechte Hand in den Verhandlungen zur Wiedervereinigung. Ein Kenner und Freund Osteuropas.

Auf der anderen Seite Viktor Orbán. Zu Wendezeiten eines der Gesichter des ungarischen Widerstands gegen die sowjetische Vorherrschaft. Streiter für freie Wahlen und ungarische Selbstbestimmung, wie die Verlegerin der "Passauer Neuen Presse", Angelika Diekmann, in ihrer Begrüßung würdigt. Als Anführer seiner nationalkonservativen Bewegung Fidesz machte er sich zum selbsterklärten Anwalt des Volkswillens und legte sich dafür mit dem Rest Europas an. Dreimal haben ihm die Ungarn das Vertrauen gegeben und ihn zum Ministerpräsidenten gemacht. Im Frühjahr kämpft er wieder darum.

Moderiert wird das Streitgespräch von Thomas Baumann, stellvertretender ARD-Chefredakteur. Viktor Orbán spricht, übersetzt vom Dolmetscher, in klaren, einfachen Sätzen: "In Europa gibt es zwei Kategorien von Ländern. Es gibt die Länder, die die Entscheidung getroffen haben, Einwanderungsländer zu werden. Sie sehen ihre Zukunft so, dass etwa in Deutschland die Deutschen leben mit ihrer Abstammung, ihrer Geschichte, ihrer christlichen Kultur. Und es leben dort auch Volksgruppen, die nicht so sind. Die eine andere Herkunft haben, die Welt anders sehen, die keinen deutschen und keinen christlichen Hintergrund haben. Auch Frankreich hat sich für diesen Weg entschieden, Italien ebenfalls, vielleicht auch die Briten. Wir Ungarn wollen das nicht. Wir wollen nicht mit Menschen zusammenleben, die nicht aus Ungarn stammen und einer anderen Kultur angehören."

Ungewohnte Thesen für das europafreundliche Ohr. Baumann hakt sofort ein: "Ist das nicht religiöser und kultureller Chauvinismus? Was haben Sie gegen Muslime" Orbán wehrt ab: "Die Frage ist nicht, was ich will. Die Frage ist, ob wir in einer Demokratie leben. Die Ungarn wollen nicht, dass eine große Gruppe von Menschen einer anderen Bevölkerungsgruppe ins Land kommt. Ich als Politiker habe die Aufgabe, diesem Willen Geltung zu verschaffen." - "Wollen das die Ungarn wirklich nicht, oder sorgen Sie dafür, dass die Bevölkerung Angst vor Muslimen hat? Sie sprechen von einer Völkerwanderung, von Millionen Migranten. Dabei ist in Deutschland beispielsweise die Zuwanderung drastisch zurückgegangen auf 90 000. In Ungarn geht es nur um einen Bruchteil dieser Zahlen. Übertreiben Sie nicht"

Orbán sieht durchaus die Gefahr großer Flüchtlingswellen auf der Welt. Allerdings eher in der Zukunft. Er spricht von allein 60 Millionen Afrikanern, die sich laut Nato-Prognosen auf den Weg machen können. "Alle in der Welt, mit Ausnahme der Europäer, geben die gleiche Antwort auf diese Herausforderung: die USA, Australien, Russland, China - alle schützen ihre Grenzen. Nur Europa nicht." Zwar ist Orbán dafür, Flüchtlingen zu helfen. Aber bitte in den Ursprungsländern.

Auch Horst Teltschik sieht Migration als riesiges Problem der Zukunft. Genauso aber der Vergangenheit: "Wir Europäer haben es verpennt, obwohl die Entwicklungen alle vorhersehbar waren", kritisiert der Außenpolitiker und zeichnet im Schnelldurchlauf die europäische Flüchtlingskrise nach: Zu Beginn kümmerte sich niemand, überließ das Flüchtlingsproblem einfach Griechenland und Italien. Die Grenzschutzagentur Frontex wurde nur ärmlich ausgestattet. Niemand interessierte sich für die Herausforderungen der Türkei, als dort schon Millionen Flüchtlinge im Land waren. Dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR ging irgendwann das Geld aus, woraufhin viele junge Syrer die heimatnahen Lager verließen.

"All das haben wir gewusst", prangert Teltschik an, um dann noch für Kanzlerin Angela Merkel eine Lanze zu brechen: "Ich habe großes Verständnis dafür, dass die Kanzlerin, als Ungarn angesichts des Flüchtlingsansturms völlig überfordert war, gesagt hat: ,Lasst sie kommen, wir schaffen das €˜", erklärt Teltschik. "Wenn ein Bundeskanzler sagen würde, ,Wir schaffen das nicht €˜, dann müsste er abgewählt werden." Empfindlich reagiert Teltschik in der Frage nach dem Willen der Ungarn: "Mich erreichen Berichte, die sagen, in Ungarn wird ein Klima erzeugt, das nicht dem Empfinden der Mehrheit entspricht. Die Bevölkerung sei nicht gegen Flüchtlinge, aber die Regierung mache Stimmung gegen die Flüchtlinge und fülle das Land mit Hass, Bitterkeit und Intoleranz", klagt Teltschik. "Ihre Regierung muss wirklich auf die Reputation Ungarns aufpassen. Dieses Negativbild wird in Europa sehr wohl wahrgenommen."

Wenige Gemeinsamkeiten lassen sich auch beim Thema europäische Solidarität entdecken. Teltschik hat kein Verständnis dafür, dass Ungarn sich weigert, die von der EU vereinbarte Quote zu erfüllen und gut 1200 Flüchtlinge aufzunehmen. Orbán verweist auf Milliardenkosten beim Grenzschutz. "Ungarn hat größte Opfer auf sich genommen, um Europa zu schützen. Wir verstehen gar nicht, dass man uns einen Mangel an Solidarität vorwirft." Die EU-Quote hält er für den Einstieg in einen Verteilungsautomatismus, den er strikt ablehnt.