Nürnberg
Nürnbergs ganze Open-Air-Pracht

80 000 Zuschauer sind bei Alexander Shelleys "Last Night" dabei Haffners Sterne leuchten am Sonntagabend hell

08.08.2017 | Stand 02.12.2020, 17:40 Uhr

Ein Abschiedsszenario wie aus dem Bilderbuch. Der Maestro nimmt Abschied und Nürnberg ist gekommen, um diesen gebührend zu gestalten. - Foto: Pelke

Nürnberg (HK) "Very british" hat sich Alexander Shelley am Samstagabend beim Klassik Open Air von seinem Publikum verabschiedet. Taschentücher durften nicht fehlen. Tags darauf hat Wolfgang Haffner seine "Stars im Luitpoldhain" zum Leuchten gebracht und noch einmal 40 000 aktiviert.

Samstagabend, kurz vor sieben. Hinter der Bühne im Luitpoldhain bläst Matthew Brown in seine silberne Trompete. "Ich lockere die Lippen ein wenig vor dem Konzert", erzählt der Symphoniker und spielt die Tonleiter erneut rauf und runter. "Das Abschlusskonzert mit unserem Dirigenten wird heute Abend etwas ganz besonderes", sagt er. "Alexander Shelley ist ein toller Musiker und er hat einfach Charisma", schwärmt er von dem Maestro, der an diesem Abend beim Klassik Open Air zum letzten Mal am Pult der Nürnberger Symphoniker stehen wird.

Derweil macht es sich Yvonne Stock in ihrem Campingstuhl vor der Bühne gemütlich. "Den ersten Regenschauer haben wir gerade schon gut überstanden", sagt Stock und schaut skeptisch zum Himmel mit den dunklen Wolken hinauf. Neben ihr weht ein tropfend nasser "Union Jack" müde im sanften Abendwind. Die meisten Regenschirme liegen derweil schon wieder zusammengeklappt neben den Picknickkörben. "Ich bin stolze Engländerin und deswegen natürlich ein Fan von Alexander Shelley", erzählt die patriotische Musikfreundin aus Großbritannien während immer mehr Besucher in den Luitpoldhain strömen, wo der 37-jährige Chefdirigent aus dem Inselreich nach acht Jahren am Pult der Nürnberger Symphoniker an diesem Samstagabend sein Abschlusskonzert vor rund 80 000 Besuchern unter freiem Himmel geben wird.

Zehn Minuten vor dem Beginn der Show hetzt Shelley durch den Bühneneingang. "Ich freue mich einfach auf die besondere Atmosphäre. Das wird sicher ein wunderschönes Abschiedskonzert", sagt Shelley und eilt zur Bühne. Seinen allerletzten Konzertabend hat der Dirigent unter die Überschrift "Last Night" gestellt. Dieser Titel, sagt, Shelley zur Begrüßung der vielen Gäste, sei aus drei Gründen passend. Einerseits sei es die letzte Nacht für sein Orchester, das sich anschließend in den wohlverdienten Urlaub verabschiedet. Anderseits sei es für ihn am Pult die letzte Nacht in Nürnberg. Außerdem sei der Titel eine Anspielung auf das englische Musikereignis "The Last Night of the Proms" in seiner Heimatstadt London. Bei diesem Sommerkonzert sei die Atmosphäre sehr gelöst. Während in der ersten Hälfte fantastische Werke im Zentrum stünden, würden in der zweiten Hälfte "patriotische" Werke im Mittelpunkt stehen. Außerdem dürfen und sollen die Konzertbesucher zum Beispiel pfeifen oder lauthals mitsingen. An diesem Abschiedsabend sollen die 80 000 Besucher in dem weiten Rund der Freiluftbühne zusätzlich mit Taschentüchern winken.

Bevor der Spaß im Vordergrund steht, zeigt Shelley gemeinsam mit seinen Symphonikern sein musikalisches Können. Schwärmerisch führt er den Taktstock zur Ouvertüre der "Meistersinger von Nürnberg", die am Anfang eines denkwürdigen Konzertabends stehen. Anschließend betritt Stargeiger Daniel Hope die Bühne und streichelt zur untergehenden Sonne seine Violine nach den Noten von Max Bruch und seinem Konzert in g-Moll. Die Wunderkerzen werden nach der Pause ausgepackt. Zur süßlichen Filmmusik des Hitchcock-Klassikers "Spellbound" von Miklós Rózsa sprühen 80 000 Sternenspeier.

Danach ist es richtig britisch. Bei den berühmten "Sea Songs" von Henry Wood müssen die Zuschauer nicht nur richtig im Takt klatschen. Das Publikum ist sogar aufgefordert an einer bestimmten Stelle mit Tröten zu pfeifen. Dummerweise wird die Musik immer schneller. Der Maestro ist "not amused" und lässt die Takte kurzerhand wiederholen. Zur Krönung des britischen Abends intonieren die Symphoniker mit "Land of Hope and Glory" von Edward Elgar die heimliche Hymne der Insel. Vorher macht Shelley klar, dass er mit seinem Heimatland der "Hoffnung und des Ruhmes" derzeit nicht so einverstanden ist. "Ich bin natürlich ein stolzer Brite. Aber ich bin auch stolzer Europäer", ruft Shelley dem Publikum zu und erinnert daran, dass er mit 18 Jahren angefangen habe, in Düsseldorf zu studieren. Deutschland sei mittlerweile seine zweite Heimat geworden. "Bei mir zu Hause in England gibt es viele, die trotz des Brexits weiter an Europa glauben", versichert der britische Dirigent dem Publikum.

Letzterem macht er zum Abschluss ein liebevolles Geständnis. "Die neun Jahre hier in Nürnberg werde ich bis zum Ende meines Lebens nicht vergessen." Das Publikum in Franken sei immer wahnsinnig warmherzig und offen gewesen. Als Zugabe wählt Shelley mit "Hallelujah" von Friedrich Händel das Werk eines deutschen Komponisten, der zeitlebens sehr viel Zeit in England verbracht hat. Ganz am Ende tanzen 80 000 gemeinsam zum "Colonel Bogey March" durch die Nacht. Das Taschentuch kommt ganz am Ende beim Stück "Auf Wiedersehen" zum Einsatz. Ein paar Tränen fließen natürlich auch.

Tags darauf fließen höchsten Freudentränen über das fantastische Line Up, das Nürnbergs Kulturpreisträger Wolfgang Haffner wieder auf die Beine gestellt hat: Till Brönner, Thomas Quasthoff, Nils Landgren, Stefanie Heinzmann und Wolfgang Niedecken. Nicht zu vergessen die fantastische German All Star Big Band unter der Leitung von Jörg Achim Keller. Alleine diese zu genießen, macht die Veranstaltung schon zu einem Gewinn.

Es sind vor allem knackige Fusionklänge mit viel Groove und Funk, die die Jazzgrößen unter dem wolkenlosen Vollmondhimmel ertönen lassen. Zusammen mit Brönner huldigt Haffner einem der absoluten Heroen des Fusionjazz: Dave Grusin. Dessen Titeltrack zu dem Film "3 Days Of The Condor" ist einer der Höhepunkte des Abends, ebenso wie Thomas Quasthoffs Version von John Lennons "Imagine" - Letzteres ohne Drums - zum Bedauern von Haffner. Eine großartige Visitenkarte gibt auch die Schweizerin Stefanie Heinzmann ab. Lediglich Wolfgang Niedecken bremst in seiner altväterlichen Art auf der Zielgerade die Stimmung etwas ein, was dann viele angesichts der hereinbrechenden Kälte als Signal zum Aufbruch nutzen. Wer bleibt, den entschädigt ein grandioses Finale.