München
Verdrängte Opfer

Mediziner und Historiker wollen in München mit öffentlicher Namenslesung an NS-Euthanasieopfer erinnern

15.01.2013 | Stand 03.12.2020, 0:36 Uhr

Im Isar-Amper-Klinikum München-Ost in Haar finden psychisch Kranke medizinische Hilfe. In der NS-Zeit spielten sich in der damaligen Anstalt allerdings unvorstellbar grausame Szenen ab. Arch - foto: Webel

München (DK) Sie waren die Schwächsten der Schwachen, sie waren die, die sich am allerwenigsten wehren konnten – und sie sind die, über deren Leid bis heute in der Öffentlichkeit am meisten geschwiegen wird: die psychisch Kranken und Behinderten, die dem Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Das findet zumindest die Münchner Arbeitsgruppe „Psychiatrie und Fürsorge im Nationalsozialismus“, der vor allem Ärzte und Historiker angehören.

Am Freitag wollen sie deshalb am Münchner Marienplatz mit einer öffentlichen Namenslesung an die Opfer erinnern. Eine Aktion, die von vielen Seiten unterstützt, von einigen Vertretern historischer Archive aber auch kritisiert wird.

„Wir wollen die Psychiatriepatienten, die bis zu ihrer Ermordung Jahrzehnte in der Pflege-Heil-Anstalt Eglfing-Haar untergebracht waren, wieder ins Gedächtnis der Menschen zurückholen“, sagt Gerrit Hohendorf vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der TU München und einer der Initiatoren der Veranstaltung. Gerade deshalb habe man sich entschieden, etwa 3000 Namen damaliger Opfer öffentlich zu verlesen. Eglfing-Haar war damals die logistische Drehscheibe für Krankenmorde in ganz Bayern.

Die Stadt München unterstützt die Aktion, Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) hat die Schirmherrschaft übernommen.

Doch einige Archive, darunter das Münchner Stadtarchiv und das Archiv des Erzbistums München und Freising, haben Bedenken angemeldet. „Wir unterstützen das Anliegen, an die Opfer von Euthanasie zu erinnern, ausdrücklich“, so Michael Stephan, Leiter des Stadtarchivs. „Aber die öffentliche Verlesung von Namen halten wir fragwürdig, denn es gibt noch zahlreiche Nachfahren der Opfer, und die hätte man vorher eigentlich alle nach ihrer Zustimmung fragen müssen. Das ist meines Wissens aber nicht passiert.“ Es könne ja auch sein, dass manche Angehörige nicht wollten, dass die psychische Erkrankung eines Familienmitglieds auf diese Weise bekannt wird, so Stephan.

Gerrit Hohendorf teilt diese Bedenken nicht. Das Archiv des Bezirks Oberbayern, welches die meisten Patientendaten zur Verfügung gestellt habe, sei mit der geplanten Aktion einverstanden. „Und gerade auch Angehörige haben uns immer wieder dazu ermuntert, diesen Schritt zu gehen“, so Hohendorf. Es sei der ausdrückliche Wunsch vieler Angehöriger von Euthanasieopfern, hier vermehrt Aufklärungsarbeit zu leisten. Denn viel zu lange habe man in Deutschland Behinderte, Kranke und Zwangssterilisierte als Opfer zweiter Klasse behandelt. „Welche Gesellschaft setzt sich schon gerne damit auseinander, dass sie ihre schwächsten Mitglieder ihren Mördern ausgeliefert hat“, sagt Hohendorf.

Bis in die 80er Jahre seien Ärzte, die sich an Euthanasieprogrammen der Nazis beteiligt hatten, geschützt worden. „Sie waren ja schließlich allesamt namhafte Mediziner. Man hat sie vor Gericht freigesprochen und die Leute haben applaudiert.“

Trotz der Bedenken wollen die Archive nicht gegen die Aktion am Freitagnachmittag vorgehen. „Das wäre sicher das falsche Signal bei so einem sensiblen Thema“, sagt Archivleiter Michael Stephan, der das Engagement der Arbeitsgruppe „Psychiatrie und Fürsorge im Nationalsozialismus“ ansonsten als „sehr lobenswert“ bezeichnet.

Allerdings will die Arbeitsgruppe auch ein Gedenkbuch an die Euthanasieopfer herausbringen, und dort ebenfalls die Opfer mit vollständigem Namen auflisten. „Darüber wird aus Sicht des Datenschutzes sicher noch einmal zu reden sein“, sagt Stephan. Geht es nach Gerrit Hohendorf und seinen Mitstreitern, soll diese Diskussion dann auch in der Öffentlichkeit geführt werden.