München
München zwischen Schock und Alltag

24.07.2016 | Stand 02.12.2020, 19:30 Uhr

München (DK) Gaby Zöller hat Tränen in den Augen. Sie kann immer noch nicht fassen, wieviel Glück sie gehabt hat. "Es hätte auch mich treffen können", erzählt die 47-Jährige. Nur zehn Minuten vor dem Amoklauf war sie noch hier vor dem OEZ, dem Olympia-Einkaufszentrum in München, führte ihren Hund Gassi. Als sie zu Hause ankam, hörte sie die ersten Schüsse. "Ich hatte gedacht, es wären Kinder mit Spielzeugpistolen", sagt Zöller. Doch dann kamen im Radio bereits die ersten Eilmeldungen über das Blutbad quasi vor ihrer Haustür.

Minuten, die für sie viel verändern. "Ich habe mich in München immer sicher gefühlt. Der Terror - das war so weit weg. Bis gestern." Was wird nun aus der fröhlichen Unbefangenheit dieser Stadt? Zöller hat in diesem Jahr drei der begehrten Reservierungen für die Wiesn ergattert. Doch jetzt weiß sie nicht mehr, ob sie in diesem Jahr überhaupt noch auf das Oktoberfest will: "Natürlich habe ich Angst."

München am Tag danach. Die U 1 vom Hauptbahnhof in Richtung Norden ist schon bei der Abfahrt fast leer. Es scheint so, also ob die Menschen den Weg am Samstagvormittag meiden. Denn auf der Anzeige am Bahnhof steht als Ziel des Zuges: Olympia-Einkaufszentrum (OEZ). Direkt darunter prangt der Hinweis: "U 1 beginnt/endet am Georg-Brauchle-Ring auf Anordnung der Polizei. Der Bahnhof Olympia-Einkaufszentrum wird nicht angefahren!"

Und so steigt nur eine Handvoll Menschen in den Waggon, fast alle starren während der Fahrt auf den Boden, kaum jemand spricht ein Wort. Je näher die Bahn dem OEZ kommt - dem Ort, an dem nur wenige Stunden zuvor ein 18-Jähriger neun Menschen erschoss -, desto bedrückender wird die Atmosphäre.

Am Anschlagsort selbst sind nur wenige Passanten anzutreffen. Dafür eine ganze Kolonne von Polizeiautos und mehr als 30 TV-Übertragungswagen. Belgien, Schweden, Russland, Japan - die Fernsehteams kommen von überall her an diesen Ort des Schreckens. Die Journalisten sind im Vergleich zu den Schaulustigen deutlich in der Überzahl.

Die wenigen Passanten, die an den Absperrungen stehen, sind zumeist Anwohner. Petrita Ciobanu wohnt direkt gegenüber. "Gut, dass ich nicht mehr einkaufen gegangen bin", sagt er. Bis kurz vor 18 Uhr sei er im OEZ gewesen. Nachdem er nach Hause gekommen war, wollte er eigentlich gleich noch einmal los, um Lebensmittel einzukaufen. "Nur weil ich mich mit meiner Freundin gestritten habe, sind wir zu Hause geblieben. Vom Balkon aus habe ich dann gesehen, wie Besucher und viele Mitarbeiter, die ich kenne, aus dem OEZ gerannt sind. Sie haben geschrien: ,Jemand schießt, er hat eine Pistole!'", berichtet der 30-Jährige und fügt an: "Was hier passiert ist, ist so traurig." Im OEZ, wo er fast jeden Tag sei, habe er sich das nie vorstellen können. "Auf dem Oktoberfest vielleicht oder am Tollwood, aber doch nicht hier!", sagt er.

Das Festival, das ganz in der Nähe des Tatorts liegt und eigentlich bis Sonntag gehen sollte, wurde wegen des Amoklaufs vorzeitig abgebrochen. "Das abzusagen, finde ich echt Schwachsinn", mault eine Frau, als sie am Eingang abgewiesen wird. Solche Reaktionen seien aber die absolute Ausnahme, sagt ein Tollwood-Security-Mitarbeiter. Sowohl die Standbetreiber als auch die meisten Besucher hätten Verständnis für die Absage.

"Bis gestern dachte ich, München ist die sicherste Stadt der Welt", sagt ein Spaziergänger im angrenzenden Olympiapark. Ein Anderer ist überzeugt, dass das Oktoberfest nun abgesagt werde. "Das ist einfach nicht zu verantworten", meint er. Die Äußerungen geben die Stimmung rund um das OEZ wider: Verzweiflung, Resignation, Trauer.

Ganz anders sieht es dagegen in der Münchner Innenstadt aus: Am Viktualienmarkt sind die Tische voll belegt. Hier sind Sätze wie "Wegen sowas bleib ich doch nicht daheim!" öfter zu vernehmen. Eine Gemüseverkäuferin zeigt sich erleichtert, dass es sich offenbar um einen Einzeltäter handelte und nicht um eine gezielte Terroraktion und merkt dann gleich an: "Wir müssen jetzt weitermachen. Nicht unterkriegen lassen!"

Auch am Marienplatz ist alles wie immer: Touristen fotografieren das Rathaus, Straßenmusiker spielen Xylofon, ein Junggesellenabschied sorgt mit lauten Gesängen für ausgelassene Stimmung und viele Lacher. Nur ein Mobilfunkgeschäft hat "aufgrund der aktuellen Umstände" geschlossen. Die Fußgängerzone und der Stachus sind kaum leerer als sonst. Von der Panik, die hier wenige Stunden zuvor nach Falschmeldungen von Schüssen ausbrach, ist nichts zu merken. Nervosität? Fehlanzeige. Das könnte auch an der Polizei liegen, die sich an allen großen Plätzen sehr präsent zeigt.

"Polizeiabsperrung" steht auch auf dem rot-weißen Plastikband an der Hanauer Straße. Die Ermittler sichern Spuren, vor dem McDonald's und im OEZ. An der Straßenecke vor dem Einkaufszentrum ringen Anwohner um Worte für das eigentlich Unfassbare. Sie sind gekommen, auch um zu begreifen, was da geschehen ist, bringen Blumen und Kerzen. "Wie kann man nur so blöd sein und so etwas tun €, sagt Okan O. Auf seinem Smartphone zeigt er eines dieser grausamen Bilder, die schnell nach der Tat auf Facebook kursieren. Ein junger Mann in einer Blutlache, getötet offenbar durch einen Kopfschuss, der Körper bedeckt mit weißen Laken. "Ein guter Bekannter", sagt Okan O. über den 19-Jährigen, ringt um Fassung. "Er wollte nächste Woche in den Urlaub nach Griechenland, kam deshalb zum Einkaufen." Der Vater liege jetzt im Krankenhaus, habe einen Herzinfarkt erlitten, als er vom Tod seines Sohnes erfuhr.