München
Handarbeit beim Glockenspiel

30.03.2015 | Stand 02.12.2020, 21:28 Uhr

Der besiegte Ritter braucht nach seinem Auftritt beim Glockenspiel am Marienplatz Hilfe: Roy Feder-Zöttl (rechts oben) gehört zu den städtischen Mitarbeitern, die den Recken immer wieder per Hand aufrichten - Fotos: Jerabek

München (DK) Schon Minuten vorher bilden sich Menschentrauben im Gedränge des Münchner Marienplatzes, immer mehr Frauen und Männer heften einen ungeduldigen Blick auf den Rathausturm: Jeden Tag um 11 Uhr, 12 Uhr und von März bis Oktober auch um 17 Uhr lockt das Glockenspiel mit Szenen aus der Stadtgeschichte Touristen und Passanten an.

Er hat keine Chance. Die Lanze seines Gegners trifft ihn, er kippt im Sattel nach hinten. Tag für Tag, seit mehr als 100 Jahren, verfolgt das Publikum auf dem Marienplatz, wie der lothringische Ritter zu Glockenklängen von seinem bayerischen Kontrahenten besiegt wird. Der geschlagene Reiter verschwindet im Innern des Spielwerkserkers des Münchner Rathauses – wo auf die lebensgroße Figur schon ein Mitarbeiter der Stadt wartet, um Hand anzulegen. Auch wenn es einst das erste elektromechanisch betriebene Glockenspiel Europas war: Hinter den Kulissen der Touristenattraktion ist bis heute Handarbeit gefragt. Glocken, Spieltisch, Motor und Bedienpult sind im Turm über mehrere Etagen verteilt, teilweise nur durch eine schmale steinerne Wendeltreppe verbunden.

„Betätigt wird das Glockenspiel im fünften Stock. Es muss immer jemand vor Ort sein, weil wegen des Alters immer mal kleine Störungen auftreten“, erläutert Roy Feder-Zöttl, Leiter der Schlosser-, Sanitär- und Heizungsabteilung im Neuen Rathaus. Im Wechsel mit zehn Kollegen wacht er über das Glockenspiel. Vor allem sorgt das Team dafür, dass sich überhaupt etwas tut im Rathausturm: „Jeder Befehl hier wird von Hand gegeben.“ Zehn Schalter müssen laut Feder-Zöttl nacheinander betätigt werden. Egal, ob es darum geht, die Glocken zum Klingen zu bringen, Ritterturnier oder Schäfflertanz zu starten oder den Hahn in Bewegung zu setzen: Ohne Menschenhand wäre nichts zu sehen und zu hören. Für den Notfall – zum Beispiel, wenn der Frost den Glocken zu schaffen macht – liegen digitale Speicherkarten mit allen Liedern bereit, von denen der Glockenklang abgespielt werden kann.

Auf dem alten Bedienpult steht eine moderne Funkuhr, damit Feder-Zöttl und Co. das Glockenspiel exakt zur vollen Stunde starten – wobei sie um 12 Uhr absichtlich drei Minuten warten, bis das Mittagsgeläut der umliegenden Kirchen verstummt ist. „Es kommt schon auch mal vor, dass man ein bisschen zu spät ist“, verrät der 48-Jährige. Die Beschwerden der Touristen kommen in einem solchen Fall prompt: „Sie gehen gleich zur Pforte.“

Etliche Meter weiter oben, im 8. Stock, steht ein unscheinbares Klavier. Obwohl niemand in die Tasten greift, wird hier die Melodie der Glocken bestimmt: An der Rückseite ist eine Holzwalze eingesetzt, die durch kleine Metallstifte mit vier Liedern bestückt ist. Sechs Walzen werden im monatlichen Wechsel verwendet. Das Repertoire reicht von „Muss I denn zum Städtele hinaus“ bis „Oh Tannenbaum“.

Von der Walze werden Impulse zum Spieltisch im 10. Stock übertragen. Hier rattert und knattert es wie in einer alten Fabrik, Räder drehen sich – und setzen über lange Drahtseile die Klöppel der 43 Glocken in Bewegung, die hoch oben unter der Turmspitze hängen. So gut wie heute klang das Glockenspiel lange Jahre nicht: 2007 wurden die Glocken gereinigt, restauriert und neu gestimmt. Um die größten Glocken mit einem Durchmesser von mehr als einem Meter überhaupt herauszubekommen, habe sogar ein Teil des Turmes abgebaut werden müssen, erzählt Feder-Zöttl.

Wenn am Ende des Glockenspiels alle 32 Figuren wieder stillstehen, bekommt der besiegte lothringische Ritter Sonderbehandlung vom städtischen Mitarbeiter. Eine Tür bietet neben dem Bedienpult Zugang zum Spielwerkserker. Bevor Feder-Zöttl wieder mit dem Aufzug hinunterfahren kann, muss er an der Lanze des Reiters ziehen und ihn wieder aufrichten – damit er zum nächsten Turnier aufrecht im Sattel sitzt.