München
Fahrgeschäft der Schadenfreude

Der Toboggan ist eine Institution auf dem Oktoberfest Den meisten Spaß haben oft die Zuschauer

20.09.2017 | Stand 02.12.2020, 17:28 Uhr

Das Hinweisschild wird meist ignoriert: Lieber wagen die Besucher den Gang übers Laufband alleine - wenn auch oft in Schieflage.

München (DK) Der Toboggan ist seit 84 Jahren eine Konstante auf der Wiesn. Während Kinder die 40 Meter lange Holzrutsche erfreut, suchen Erwachsene den Nervenkitzel bei der Laufbandfahrt nach oben - beäugt von zig schadenfrohen Schaulustigen.

Der Italiener hat einen dieser Filzhüte auf dem Kopf, leicht glasige Augen und, seinem Matrosengang nach zu urteilen, ein bis zwei Maß zu viel erwischt. So mutig er gerade noch die Stufen zum Toboggan hinaufgekraxelt ist, so bang blickt er nun auf das Laufband zu seinen Füßen - 14 Meter lang, 10,6 Stundenkilometer schnell, binnen weniger Sekunden fährt es einen auf den 21 Meter hohen Rutschturm. Wenn alles glattgeht.

Am Eingang des Fahrgeschäfts warten die Freunde des Italieners, vier weitere Filzhüte, die ihren Kompagnon lautstark anfeuern. Und hinter dem Quartett, mitten auf der Hauptstraße der Wiesn, direkt am Eingang, stehen noch mal Dutzende Schaulustige - so wie jeden Abend vor dem Toboggan. "Es ist die Schadenfreude", erklärt Claus Konrad die Anziehungskraft seines Fahrgeschäfts für die Passanten. "Sie ist der Faktor, der hier ganz massiv zum Tragen kommt. Deshalb bleiben die Zuschauer alle hängen."

Selbst Konrad, der seit Jahrzehnten am Toboggan steht, muss immer wieder lachen, wie sich manche Leute auf dem Laufband anstellen, "und was für Verrenkungen die machen", sagt dieser Berg von einem Mann, dessen Oberarme so dick wie die Oberschenkel des Italieners sind. In fünfter Generation betreibt der 49-Jährige das Fahrgeschäft, das bereits seit 1933 auf der Wiesn steht. Gar ein halbes Jahrhundert lang ist seine Mutter dabei, Astrid Konrad. Ihr Mann hat das Reiseleben mit dem Toboggan einst aufgegeben, "weil das einfach zu personalaufwendig ist und sich nicht rechnet", sagt Claus Konrad, der im Hauptberuf bei der Bundeswehr ist, auf dem Lechfeld bei Augsburg.

Stets im September nimmt er sich jedoch mehrere Wochen Urlaub, kommt nach München und baut zusammen mit vier Kollegen 14 Tage lang den Toboggan auf, dessen Name sich vom Wort der Algonkin-Indianer für einen Schneeschlitten ableitet. Warum er sich diesen Stress Jahr für Jahr antut? "Weil es eine Familientradition ist", sagt Claus Konrad. "Und weil ich unglaublich viel Zeit und Herzblut in das Fahrgeschäft gesteckt habe. Der Toboggan, das ist ein Stück weit mein Leben."

Für viele Wiesn-Stammgäste wiederum ist ein Besuch auf dem Oktoberfest nicht komplett ohne die abschließende Rutschpartie. In den Abendstunden seien es vor allem die Erwachsenen, die sich nach einigen Maß im Festzelt aufs Laufband trauen, "oft auch wegen des Gruppendrucks", sagt Claus Konrad. Am Nachmittag dagegen kommen Familien und Kinder, denen es weniger um die Fahrt nach oben geht, sondern um das, was danach kommt: die 39,60 Meter lange Rutsche aus Eschenholz, eineinhalbmal um den Turm herum.

Wobei Claus Konrad festgestellt hat: "Leider kommen immer weniger Familien aufs Oktoberfest - auch, weil sich das viele nicht mehr leisten können." Von daher müsse man "vielleicht auch mal über die gesamte Preisgestaltung nachdenken", findet Konrad, der vier Euro pro Fahrt verlangt, für Kinder drei. Und noch in einer zweiten Hinsicht habe sich das Publikum in den vergangenen Jahren gewandelt: "Wenn mal ein Kleidungsstück beschädigt wird oder sich jemand aufschürft, was gelegentlich vorkommt, dann hieß es früher: Oh Mann, da war ich selbst schuld. Heute dagegen fordern die Fahrgäste gleich Schadensersatz und drohen sogar mit dem Anwalt."

Dabei hängt neben der Kasse ein Schild mit dem großformatigen Hinweis: "Auf Wunsch wird jede Person über das laufende Band geführt." Doch darauf verzichten viele Fahrgäste, zumal im bierseligen Übermut - so auch der Italiener mit dem Filzhut. Mit einem lauten Schrei springt er aufs Band, kommt sogleich ins Straucheln, will sich am Geländer festhalten und rasselt auf den Hosenboden. Und während sein Filzhut alleine nach oben fährt, muss man an Claus Konrads Worte denken: "Eigentlich ist das mit dem Laufband ganz einfach. Man muss sich nur ein bisschen nach vorne beugen und nicht am Geländer festhalten, denn das bewegt sich ja nicht. Ist halt keine Rolltreppe, der Toboggan."