Maroldsweisach
Grenzhund wird zum Republikflüchtling

Die tierische "Überläuferin" Gitta verdeutlicht den Irrsinn der deutsch-deutschen Teilung

01.10.2015 | Stand 02.12.2020, 20:44 Uhr

Zwei Grenzpolizisten und ihre „Doppelagentin“ Gitta: Siegfried Bachmann (oben, links) und Ernst Schanz an der deutsch-deutschen Grenze. Die Anlagen der Osttruppen wurden immer ausufernder – bis eines Tages der verhasste Zaun offenstand - Fotos: privat

Maroldsweisach (DK) Es gibt viele Geschichten, die den Irrsinn der deutsch-deutschen Teilung entlarven. Eine davon ist die der Grenzhündin Gitta, die in den Westen rübermachte, von den Osttruppen deswegen als eine Art „Republikflüchtling“ verleugnet wurde – und fortan beim Westzoll Dienst schob.

Diese unheilvolle Grenze war früher nur auf Karten existent, unsichtbar zog sie sich zwischen dem bayerischen Franken und dem sogenannten fränkischen Thüringen hin, zwischen Ortschaften wie Maroldsweisach und Hellingen, wo Menschen lebten, die nicht nur denselben Dialekt sprachen, sondern auch miteinander verwandt und verschwägert waren. Plötzlich sollte diese ominöse Grenze zwei Staaten trennen. Ost und West – an diesem Fleckchen Deutschland geografisch zwei reichlich vage Unterscheidungen: „Der Westen ist hier im Grunde genommen der Süden, der Osten im Norden, östlich Maroldsweisach, nordwärts Wasmuthhausen lag der Osten bis zur Grenzöffnung westlich des Westens“, schreibt der Heimatautor Georg Habermehl.

Doch aus einem Deutschland wurden zwei, und die Grenze war bald nicht mehr zu übersehen – und fast nicht mehr zu überwinden. „In den 50er Jahren kamen Arbeitskommandos aus Thüringen und haben auf einem zehn Meter breiten Streifen alles abgeholzt und spurensicher gemacht“, erzählt Siegfried Bachmann. „Das bedeutet, dass der Boden regelmäßig gepflügt wurde, um jede Fußspur zu erkennen.“ Der heute 88-Jährige war Leiter der Polizeistation Maroldsweisach, im Westen. In den 60er Jahren wuchs der Streifen auf eine Breite von 100 Metern. „Notfalls, wenn einmal ein Häusla im Weg gestanden hat, hat man es meistens weggesprengt“, erinnert sich Bachmann. Stacheldrahtlinien wurden gezogen, Wachtürme aufgestellt, Minen verlegt. „An unübersichtlichen Bereichen wurden etwa Mitte der 60er Jahre Hundelaufanlagen erstellt. Meist waren mehrere Hunde an sogenannten Laufseilen angehängt. Die Schäferhunde wurden aber auch als Fährtenhunde mitgeführt“, heißt es in der Chronik der West-Dienststelle Maroldsweisach.

„Es muss wohl kurz danach gewesen sein, dass bei uns ein herrenloser Schäferhund aufgekreuzt ist“, erinnert sich Bachmann. „Er hat auf Kommando gehört, alles. Und unseren Hundeführern fehlte kein Tier. Mit Sicherheit war das ein Hund der Grenztruppen im Osten“, sagt der ehemalige Polizeichef. Die Westpolizisten nahmen also mit den Ostwachen Kontakt auf – wie man das eben so machte: Mit einem Lautsprecher fuhren sie an die Grenze zu einem Wachturm und riefen rüber, man habe hier einen Hund, ob ihnen einer fehle. Keine Antwort. Irgendwann die knappe Auskunft: Angeblich fehlte kein Hund. Die Westpolizisten glaubten das natürlich nicht, dafür war das Tier viel zu gut abgerichtet. „Der ist halt fahnenflüchtig geworden, ein Republikflüchtling“, sagt Bachmann und schmunzelt.

Also tauften die Westgrenzer die Hündin Gitta und nannten ihre neue Kameradin liebevoll „Überläuferin“ oder „Doppelagentin“. Eins stand fest: „Das war der beste Hund, den wir je hatten.“ Viel zu tun hatte Gitta freilich nicht. Anders als auf der anderen Seite des Zauns musste man im Westen niemanden abhalten, in den Osten zu flüchten. Gitta kam zur Spurensuche – zum Beispiel um jemanden zu finden und zu helfen, der sich auf der Flucht verletzt hatte. Später kam Gitta zum Zoll. Bachmann gibt aber zu: „Viel eingesetzt worden ist der Hund bei uns nicht.“

1987 ging Bachmann in den Ruhestand. „Wenn mir da jemand gesagt hätte, die Mauer fällt bald, ich hätte gesagt: Du spinnst!“, erinnert sich der 88-Jährige. „Niemals hätte ich das geglaubt, wenn man die Grenze jahrzehntelang erlebt hat.“ Eins ist dem ehemaligen Polizeichef noch wichtig: Nicht alle Ostgrenzer über einen Kamm zu scheren. Es habe solche und solche gegeben. Man müsse sich vorstellen, was die Propaganda mit dem Menschen macht. „Wenn ich mein Leben lang hör’, der Schnee ist schwarz, der Schnee ist schwarz, der Schnee ist schwarz. Irgendwann nach einigen Jahren, sag ich: Naja, schwarz ist er nicht, aber dunkelweiß ist er schon.“