Ingolstadt
"Ich fühlte mich schmutzig"

12.03.2010 | Stand 03.12.2020, 4:11 Uhr
Die Gänge des katholischen Seminars in Eichstätt: Ein Teil des Gebäudes diente früher als Internat. Hier soll es bis in die 80er Jahre hinein zu Misshandlungen gekommen sein. Die Einrichtung wurde Ende der 80er Jahre geschlossen. Auch im Canisiuskonvikt in Ingolstadt, wo es in den 60er Jahren ebenfalls Übergriffe gab, wurde der Internatsbetrieb vor fast zwei Jahrzehnten eingestellt. - Foto: Auer −Foto: Auer

Ingolstadt (DK) Josef B. ist ein erfolgreicher Mittvierziger. Er hat eine eigene Firma, eine Lebensgefährtin und eine kleine Tochter. Doch echte Unbeschwertheit kennt er nicht: "In mir drin gibt es eine dunkle Tür, die kann ich nicht öffnen." Vielleicht will sie Josef B. auch gar nicht öffnen.

Aber jetzt geht er an die Öffentlichkeit – und er ist nicht allein. In den vergangenen Tagen haben sich mehrere Opfer von Missbrauch und Misshandlungen in Einrichtungen in der Diözese Eichstätt beim DONAUKURIER gemeldet.
 
Der stattliche Mann ist als Jugendlicher missbraucht worden. Josef B. war damals Schüler an der Wirtschaftsschule in Ingolstadt. In der zweiten Hälfte der 70er Jahre war die Schule noch im Kolpinghaus untergebracht. Es fällt Josef B. sichtlich schwer, über die Ereignisse zu sprechen. Er kämpft mit jedem Wort, mit jedem Satz. Ein Mitarbeiter des Kolpinghauses habe ihn, "links hinter einem Torbogen" in ein Zimmer gelockt und dort missbraucht. Das sei einige Male geschehen. Josef B. nennt keine Details: Da ist die dunkle Tür, die er nicht öffnen kann. Er weiß nur noch, dass seine schulischen Leistungen dramatisch nachließen und er zum Klassenkasperl mutierte. Außerhalb der Schule habe er sich dann zurückgezogen und sei ein Einzelgänger geworden. Und er duschte, stundenlang, immer wieder und wieder. "Ich fühlte mich schmutzig."

Es dauerte Jahre, bis sich das normalisierte. "Als ich meine erste Freundin hatte, glaubte ich, es wäre vorbei", sagt Josef B. Doch das war ein Irrtum: "Die Sache holte mich immer wieder ein." Bis heute. Warum hat er sich niemandem geöffnet? "Der Mann hat mir Gewalt und Schande angedroht." Zudem habe es niemanden gegeben, dem er sich anvertrauen wollte. "Ich hatte nicht den Mut, ich war ein kleiner Bub, das waren meine ersten sexuellen Erfahrungen." Nur einmal hat er es versucht. Bei einem Lehrer. Am Rande eines Festes habe er eine Andeutung gemacht, doch der Lehrer habe nur abgewunken. Die Eltern von Josef B. wissen bis heute nichts. Zu denen traute er sich damals nicht zu gehen: "Ich hatte doch etwas Schlechtes getan." Er überlegt. "Vielleicht sage ich es ihnen jetzt."

Auch der 59-jährige Karl Z. aus Ingolstadt wurde in seiner Jugend missbraucht: von einem Vizepräfekten im Ingolstädter Canisiuskonvikt. Das war Anfang der 60er Jahre, als der kleine Bub vom Land eine höhere Schule besuchen sollte. Auf dem Weg zum Fußballplatz habe ihn der Ältere mit den Worten "Komm, wir machen was Schönes" ins Gebüsch gezogen. Die Sache sei nur daran gescheitert, "dass mein Anus zu eng war".

Die Zeit in dem ehemaligen Studienseminar hat sich aber noch aus einem anderen Grund in sein Gedächtnis eingebrannt: "Mit dem Vizepräfekten bin ich fertig geworden." Es sei bei dem Versuch geblieben. Keine Gegenwehr habe es aber gegen die "Prügelorgien" der Präfekten, wie die für die jeweiligen Klassen zuständigen Erzieher hießen, gegeben: "Da wurde aus nichtigem Anlass brutal zugeschlagen", erinnert sich Karl Z.. Es reichte ein Lachen beim Essen. Auf die Frage des Präfekten, warum er gelacht habe, antwortete Z.: "Die anderen sagen, sie stieren so!" Dieser landläufige Ausdruck für einen strengen, leicht dümmlichen Blick brachte dem elfjährigen Z. Prügel ein.

Zu den Präfekten gehörte auch ein junger Lehrer, der vormittags an einem Gymnasium unterrichtete. "Sein Rohrstock hatte sogar einen Namen. Tacitus." Bei schlechten Noten seien Schläge üblich gewesen. Zum Beweis legt Z. ein altes Schwarz-Weiß-Foto vor, das den grinsenden Lehrer beim Zuschlagen zeigt, im Hintergrund weint ein Bub und hält sich den Hintern.

Der zweite Präfekt ging noch härter zur Sache: Bei den Gedanken an früher hat Z. immer wieder Franz H. vor Augen. Der Priester war besonders gnadenlos, wenn er zuschlug. Und er schlug wegen Nichtigkeiten zu. Einmal stieß Z. aus Versehen eine Kerze um, nach der Tracht Prügel konnte er "tagelang nicht sitzen".

Z. leidet bis heute an den Folgen der Ereignisse, die inzwischen fast 50 Jahre zurückliegen. Nicht nur seelisch: Schon im ersten Jahr an dem bischöflichen Studienseminar litt er immer wieder an unerklärlichen und starken Schmerzen. Jede Bewegung fiel Karl Z. schwer. Die Erzieher nannten ihn einen Simulanten und wenn er wegen der Schmerzen nicht zur Schule gehe wollte, wurde er geprügelt. Erst bei einer Schuluntersuchung kam eher zufällig der wahre Grund ans Licht: Der Arzt attestierte Z. Gelenkrheuma, das zu diesem Zeitpunkt schon das Herz angegriffen hatte. Drei Monate verbrachte der Bub im Krankenhaus. Deshalb hat der Mann heute bereits mehrere Operationen hinter sich, demnächst wird er neue Herzklappen bekommen. "Hätten die damals meine Schmerzen ernst genommen und wären mit mir zum Doktor gegangen, wäre mir das erspart geblieben", sagt K. verbittert. Sein Peiniger ist nicht mehr Priester. Er ist verheiratet, lebt mit seiner Familie in einer anderen Diözese und ist in seiner Pfarrgemeinde Vorsitzender der Kirchenverwaltung.

Selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Ohrfeigen in weiten Teilen der Bevölkerung bis in die 80er Jahre hinein als normale Erziehungsmaßnahme galten – in manchen katholischen Internaten waren die Maßstäbe offenbar ganz andere.

Bernd A. hat deshalb mit der katholischen Kirche gebrochen. Dabei wollte der Enddreißiger Priester werden. Dazu ging er schon als Schüler nach Eichstätt. Ins Studienseminar, wo die Gymnasiasten unter fast klosterähnlichen Bedingungen lebten: 6.30 Uhr aufstehen, 6.50 Uhr Heilige Messe, anschließend Frühstück und Schulbesuch. Nachmittags zwei Stunden Freizeit, ansonsten Studierzeit für die Hausaufgaben, Abendandacht, geistliche Lesung und gegen 20 Uhr zu Bett gehen und absolute Stille. Bernd A. verstieß gegen diese Regel. "Mit 13 Jahren musste ich zum ersten Mal, da ich nach 21 Uhr im Schlafsaal geschwätzt hatte, barfuß nur mit der Unterhose bekleidet, im Gang für mindestens eine halbe Stunde Strafe stehen", erzählt er. Die Gänge im Eichstätter Seminar waren nicht beheizt, der Böden mit Solnhofener Platten bedeckt. Wenn der Präfekt, ein angehender Priester, besonders wütend war, wurde dem Delinquenten bei dieser Tortur ein nasses Handtuch auf die Schultern gelegt.

Eines der einschneidendsten Erlebnisse ist für A. eine Beobachtung, die er bereits in der fünften Klasse Mitte der 80er Jahre machen musste. Der damalige Leiter des Studienseminars "hat einen Schüler meiner Klasse mit seinem Schuh auf das nackte Gesäß zur Ruhe geprügelt". Es sei nicht bei dem einem Mal geblieben.

"Es fällt mir einigermaßen schwer über diese Ereignisse zu reden", sagt Bernd A.. Auslöser für seine Aussage ist das öffentliche Interesse. "Die geschilderten Ereignisse sind nur die Spitze des Eisbergs. Trotzdem liegt es mir nicht daran, einzelne Personen anzuprangern, ich will mit meiner Nachricht an sie erreichen, dass öffentlich bekannt wird, dass dies alles keine Einzelfälle sind."

Thomas R. hat erst spät erfahren, dass er kein Einzelfall war. Das Schülerheim, in dem er in den 50er Jahren in Eichstätt untergebracht war, lag in direkter Nachbarschaft des bischöflichen Palais. Es existiert längst nicht mehr. Nach Einbruch der Nacht hat der Heimleiter den Buben, der damals zwölf oder 13 Jahre alt war, regelmäßig zu sich bestellt. Wie bei einem Verhör wurde dem Buben die Schreibtischlampe aufs Gesicht gerichtet. Der Pater saß im Dunkeln und stellte Fragen zu intimsten Dingen: "Ich sollte ihm sagen, ob ich onaniert hätte." Dann seien Fragen nach Details und Häufigkeit gekommen. Über die nächtlichen Vorkommnisse habe er damals mit niemandem gesprochen: "Ich habe mich geschämt wegen meiner Sünden." Erst später erfuhr er, dass auch andere ein ähnliches Martyrium erlitten hatten. Ein Freund, der Pfarrer geworden war, riet ihm, die Sache zu melden. "Ich habe es damals nicht getan", sagt R. Heute aber sei es wichtig zu sprechen: "Es geht um die Kirche, um meine Kirche. Sie muss ihre Glaubwürdigkeit wiedergewinnen."

Auch Josef B. hat bei seinen Aussagen nicht Rache im Sinn. Er weiß nicht, ob er der Einzige ist, der in den 70er Jahren im Umfeld des Ingolstädter Kolpinghauses Opfer eines Missbrauchs geworden ist. Er weiß auch nicht, ob sein Peiniger noch lebt. Das ist für ihn auch nicht wichtig: "Ich möchte diesem Menschen nicht mehr begegnen", sagt er. "Ich weiß nicht, ob er mein Leben zerstört hat", sagt Josef B. "Ich weiß nur, dass meine Tochter so etwas nicht erleben soll." Es geht ihm um Abschreckung. "Jeder, der sich an Kindern vergreift, muss sich dessen bewusst sein, dass es irgendwann ans Tageslicht kommt."

Die Diözese Eichstätt nimmt die Hinweise und Schilderungen über die Vorfälle im bischöflichen Studienseminar "sehr ernst" und wird ihnen nach Angaben eines Sprechers nachgehen. Dabei gehe es um "ehrliche Aufklärung ohne falsche Rücksichtnahme, auch bei Vorfällen, die schon lange zurückliegen", wie Bischof Gregor Maria Hanke am Freitag in einem Brief an die Mitarbeiter der Diözese schrieb. "Wir haben als Kirche einen hohen Anspruch an unser Handeln. Wenn wir Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen und gemeinsam präventiv verhindern, sind wir auf einem guten Weg. Das gilt für das Thema sexueller Missbrauch ebenso wie für das Thema körperliche oder psychische Gewalt, für den Umgang mit den Tätern, vor allem aber in Bezug auf die Hilfe für die Opfer", so Hanke.

Im Fall von Josef B. zeigte sich der Vorstand des Kolpinghaus-Vereins in Ingolstadt "sehr betroffen". "Wir bedauern, dass ein Schüler in unserem Haus eine solche körperliche und seelische Verletzung erleiden musste", sagte der Vorsitzende Werner Bergsteiner. "Wir wollen dem Betroffenen helfen, dass seine seelische Wunde wieder heilen kann."

Die Namen der Betroffenen sind der Redaktion bekannt, wurden jedoch mit Rücksicht auf die Privatsphäre geändert.