Ingolstadt
Schlammschlacht in Weiß

Nach den Vorwürfen von TK-Chef Baas schlägt die Debatte um manipulierte Arztdiagnosen Wellen

11.10.2016 | Stand 02.12.2020, 19:12 Uhr

Notizen mit Nachwirkungen: Wie schwerwiegend Ärzte die Krankheiten ihrer Patienten bewerten, kann Folgen auf die Finanzausstattung der Krankenkassen haben. - Foto: Thinkstock

Ingolstadt (DK) Es ist ein Anruf, eine E-Mail, und manchmal steht auch ein Kassenvertreter vor der Tür. Niedergelassene Ärzte kennen das. Immer geht es bei diesen Beratungsgesprächen um eines: ob die Ärzte die Krankheit ihrer Patienten richtig eingestuft oder, wie es im Ärztedeutsch heißt, "codiert" haben.

"Da wird enormer Druck gemacht", sagt ein Allgemeinarzt aus der Region Ingolstadt. Denn bei dieser "Codierung" geht es um bares Geld - vor allem für die gesetzlichen Krankenkassen. Je kränker, desto besser, könnte man das zugrunde liegende Prinzip beschreiben: Der Gesetzgeber hat in der guten Absicht, faire Bedingungen für alle gesetzlichen Krankenkassen zu schaffen, einen Ausgleich für diejenigen Versicherungen eingeführt, die viele schwer oder chronisch kranke Versicherte und damit höhere Ausgaben haben. "Morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich" heißt dieser Umverteilungsmechanismus, der genauso sperrig ist wie sein Name.

Seit 2009 gibt es diesen Ausgleich, und seitdem flammt immer wieder die Debatte auf, ob er nicht falsche Anreize setzt. Jens Baas, der Chef der großen Techniker Krankenkasse, hat mit einem Interview am Wochenende ordentlich Öl ins Feuer gegossen. Seitdem lodert die Aufregung hoch.

Die Kassen würden Ärzte mit Prämien ködern, Patienten kränker zu machen, als sie sind, um sich mehr Mittel aus dem Risikostrukturausgleich zu verschaffen, so lautete etwas zugespitzt der Vorwurf, den der Kassenchef in einem Interview äußerte. Und alle müssten dabei mitmachen, wenn sie nicht ins Hintertreffen geraten wollen, so Baas.

Die Ärzte sind nun empört, klingt der Vorwurf doch so, als würden sie gegen Geld die Diagnosen ihrer Patienten manipulieren. "Dies ist eine Unterstellung gegenüber der Ärzteschaft, die sachlich unbegründet ist und das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis massiv gefährdet", erklärt die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (KVB) in einer Stellungnahme. KVB-Sprecherin Birgit Grain sagt das im Gespräch mit unserer Zeitung noch deutlicher: "Prämien für das Codieren von Krankheiten gibt es in Bayern nicht."

Auch unter den gesetzlichen Krankenkassen hängt nach dem Frontalangriff von TK-Chef Baas der Haussegen schief. "Wir zahlen keine Prämien für die Codierung", sagt der Sprecher der AOK Bayern, Michael Leonhart, gegenüber unserer Zeitung und bestätigt damit die Aussage der Ärzteschaft. Baas verfolge offensichtlich das Ziel, das System der gerechten Mittelverteilung durch den Gesundheitsfonds schlechtzureden, sagt Leonhart. Der Vorstand des Dachverbands der Betriebskrankenkassen, Franz Knieps, spricht bereits von einer "Schlammschlacht".

In der Praxis stellt sich das Problem ohnehin diffiziler dar. Natürlich liegt zum Beispiel der AOK Bayern schon im eigenen Interesse daran, dass die Ärzte ihre Diagnosen richtig dokumentieren. "Es ist wichtig, dass korrekt codiert wird", sagt AOK-Sprecher Leonhart dazu. Und angesichts mehrerer Tausend Diagnoseschlüssel kann durch-aus Beratungsbedarf bestehen. Aber wo ist die Grenze zwischen Beratung und dem sanften Druck, doch eine Erkrankung als chronisch einzustufen und damit der Kasse zusätzliche Mittel aus dem Gesundheitsfonds zufließen zu lassen? Die Grenzen sind jedenfalls fließend.