Ingolstadt
"Man darf die Gewaltbereitschaft nicht unterschätzen"

23.10.2017 | Stand 02.12.2020, 17:19 Uhr

Florian Ritter. - Foto: SPD

Ingolstadt (DK )Florian Ritter, SPD-Landtagsabgeordneter und Extremismus-Experte, spricht über die "Reichsbürger"-Szene in Bayern.

Herr Ritter, Bayern ist bei der Anzahl der "Reichsbürger" im Bundesvergleich Spitzenreiter. Wie erklären Sie sich das?

Florian Ritter: Eine genaue Erklärung habe ich nicht. Tatsache ist aber, dass sich diese Szene in Bayern über Jahre hinweg, ohne dass sie großartig als Problem angesehen wurde, entwickeln konnte. Und offensichtlich gibt es eine ganze Reihe von Menschen in Bayern, die dafür ansprechbar sind. Dass die Zahlen so hoch sind, das wundert mich nicht. Es hat über Jahre hinweg eine sehr ungehinderte Entwicklung dieser Szene gegeben.

 

Hätte man früher den Fokus auf die Szene gelegt: Hätte man das Phänomen besser bekämpfen können?

Ritter: Ich denke schon. Es gibt zwei Ebenen. Einerseits die ordnungspolitischen Fragen, die zu lösen sind, zum Beispiel die Frage nach Waffenbesitz bei "Reichsbürgern". Andererseits geht es um Aufklärung, den Leuten zu erzählen, was denn eigentlich hinter dieser Ideologie steckt. Man muss auch beispielsweise Kommunen rechtzeitig darüber aufklären, wenn es an einem Ort Aktivitäten von "Reichsbürgern" gibt, damit sie auch dagegenhalten können.

 

Sicherlich haben auch schon vor der Tat von Georgensgmünd Menschen ihre Pässe abgegeben. Ist da geschlafen worden?

Ritter: Schon, und zwar in der ganz grundsätzlichen Beurteilung. Die Leute, die immer unmittelbar mit den "Reichsbürgern" zu tun hatten, die waren problembewusst, zum Beispiel die Gerichtsvollzieher. Aber die politische Einschätzung, welche Bedeutung die Szene hat, das gab es nicht. Der Verfassungsschutz hat immer gesagt, das sind "Spinner", das sei eher ein psychologisches und kein politisches Problem. Aber es ist ein politisches Problem. Wenn man sich das erste Mal mit den "Reichsbürgern" befasst, dann sieht das nicht nach einer radikalen politischen Position aus. Da steht keine Partei dahinter, die sich kommunistisch oder nationalistisch nennt. Es gibt keine Organisationsstrukturen. Die Bewegung tritt auf als eine Weltsicht, die staatliche Existenz kritisch sieht. Aber was da tatsächlich dahintersteckt an Demokratiefeindlichkeit, an Gewaltbereitschaft, das wurde eigentlich immer negiert. Und zwar von der Staatsregierung.

 

Kurz gesagt: Es gab Hinweise, die aber verharmlost wurden?

Ritter: Ja, das muss man so feststellen. Bei meiner ersten Anfrage 2014 hieß es, das seien Einzelfälle und keine Aufgabe für den Verfassungsschutz. Es hieß aber auch, man würde die Szene im Auge behalten. Man hätte aber durchaus feststellen können, dass sich die Szene vergrößert und radikalisiert hat und dass ihre Gewaltbereitschaft größer geworden ist.

 

Provokant gefragt: Hätten die Schüsse von Georgensgmünd verhindert werden können?

Ritter: So weit will ich nicht gehen. Aber was mit Sicherheit hätte verhindert werden können, ist, dass sich diese Szene so weit ausbreitet und eine so große Anhängerschaft gewinnt. Man hätte sie deutlich kleiner halten können.

 

Welche Regionen in Bayern sind besonders betroffen?

Ritter: Wir haben im Bereich Chiemgau eine ganze Reihe von "Reichsbürgern" oder auch Gruppierungen und Netzwerke, ebenso im Allgäu. Ich habe eine Anfrage an die bayerische Staatsregierung gestellt, in welchen Landkreisen "gelbe Scheine" beantragt wurden. Es gibt Landkreise, wo die Antragszahlen hochgeschnellt sind. In Bolsterlang im Allgäu war es eine öffentliche Veranstaltung, die einen Domino-Effekt nach sich gezogen hat (Anm. d. Red.: Dort haben vier Gemeinderäte und die Bürgermeisterin an einer Veranstaltung der "Reichsbürger" teilgenommen. Es kursierte das Gerücht, ohne den "gelben Schein" könne man enteignet werden).

 

Die Szene ist heterogen - wie hoch schätzen Sie die Gefahr für die Allgemeinheit ein, die von den "Reichsbürgern" ausgeht?

Ritter: Die Ideologie ist meines Erachtens demokratiefeindlich. Nicht nur die Existenz der Bundesrepublik Deutschland wird geleugnet, sondern auch die Gültigkeit der Gesetze und der Grundrechte. Das hat eine gewisse Gefährlichkeit für die Menschen, die Opfer von "Reichsbürgern" werden oder von ihnen in den Fokus genommen werden. Das sind in erster Linie im öffentlichen Dienst Beschäftigte - in der Justiz und in den Finanz- oder kommunalen Verwaltungen. Man darf die Gewaltbereitschaft nicht unterschätzen. Ich weiß von Fällen, da gab es sogar Bedrohungen gegen die Familien von Betroffenen.

 

Die Handhabe, wie die Landkreise mit "Reichsbürgern" umgehen, scheint ohne einheitliche Linie zu sein. Wie sollte man denn künftig das Problem anpacken?

Ritter: Es ist sehr wichtig, dass Behörden und örtliche Polizeiinspektionen und Polizeipräsidien eng zusammenarbeiten. Seit den Todesschüssen von Georgensgmünd wird nun versucht nachzuarbeiten. Es kommt zwar spät, aber es passiert etwas. Es hat auch Anweisungen an die Landratsämter gegeben, dazu gehört die Information der Polizei. Es gibt Ecken in Bayern, wo man schon jahrelang Erfahrungen mit dem Problem hat und wo Wege gefunden wurden, erfolgreich damit umzugehen. Darauf sollte man zurückzugreifen, erfolgreich damit umzugehen.

 

Sollten allen identifizierten "Reichsbürgern" mit Waffenschein die Waffen entzogen werden?

Ritter: Ja. Das ist für mich klar: "Reichsbürger" erkennen die Gesetze nicht an. Dann erkennen sie auch nicht an, welche Pflichten einem obliegen, wenn man eine Waffe führt. Damit ist meines Erachtens die notwendige Zuverlässigkeit nicht gegeben.

 

Die Fragen stellte

Verena Belzer.