Ingolstadt
"Keine Strafe kann das Leid lindern"

Siegfried Ratay von der Ingolstädter Außenstelle der Hilfsorganisation "Weißer Ring" über die psychologische Wirkung eines Urteils

05.12.2016 | Stand 02.12.2020, 18:57 Uhr

Foto: DK

Ingolstadt (DK) Der Verein "Weißer Ring" ist eine 1976 gegründete Hilfsorganisation für Opfer von Straftaten und deren Familien. Deutschlandweit engagieren sich mehr als 3000 Ehrenamtliche. Einer ist der ehemalige Ingolstädter Kripo-Chef Siegfried Ratay. Im Interview spricht er darüber, wie sich ein Gerichtsurteil auf Hinterbliebene und die Verletzten auswirkt.

Herr Ratay, der Jurist und Autor Ferdinand von Schirach hat es so formuliert: "Ein Strafverfahren ist keine Therapiestunde und kein Kirchgang. Es geht nicht um Befindlichkeiten oder theologische Schuld, sondern um Beweise." Stimmen Sie dieser Einschätzung zu?

Siegfried Ratay: Absolut. Die Höhe der Strafe hat keinen therapeutischen Wert. Wie hoch sie auch ausfällt, angesichts der Schäden der Opfer wird das Urteil nie befriedigend sein. Keine Strafe kann das Leid der Angehörigen lindern. Das sind Eltern, Geschwister, Ehegatten, Kinder. Ein Urteil kann dem nie gerecht werden, was passiert ist. Das gilt aber auch für die, die schwere Verletzungen erlitten haben. Sie werden ein Leben lang gesundheitliche Schäden mit sich tragen und täglich an dieses Ereignis erinnert. Ihre ganze Lebensplanung hat sich verändert. So ein Urteil kann da überhaupt nichts bewirken. Es gibt aber auch die Mitfahrenden, die keine erkennbaren Verletzungen erlitten haben, die auch dauerhaft unter der Situation leiden. Viele sind traumatisiert, leiden unter Albträumen und müssen therapeutisch behandelt werden.

 

Einige Überlebende haben den Prozess im Gerichtssaal verfolgt. Kann das eine Art Bewältigungsstrategie sein?

Ratay: Das kann ich mir nicht vorstellen. Es kann wahrscheinlich keiner so richtig verzeihen, was passiert ist. Zum Verzeihen gehört eine ganze Menge menschliche Barmherzigkeit. Dafür ist für alle Beteiligten das Leid einfach zu hoch.

 

Der Angeklagte hat sich bei den Hinterbliebenen entschuldigt. Kann diese Geste psychologisch wertvoller sein als eine langjährige Haftstrafe?

Ratay: Sicher muss man dieses Anerkennen der Schuld mit einbeziehen. Aber dennoch: Die Angehörigen und körperlich Geschädigten werden trotzdem ein Leben lang unter der Tat des Fahrdienstleiters leiden.

 

In der Öffentlichkeit werden Urteile wegen fahrlässiger Tötung oft als zu milde erachtet. Ist das aus Ihrer Sicht nachvollziehbar?

Ratay: Sicher. Wenn man einen solchen Schaden anrichtet und sich dann ansieht, dass die Höchststrafe bei fünf Jahren liegt, muss man sagen, das ist zu wenig. Aber es ist eben fahrlässige Tötung bei einem Verkehrsunfall, und da ist der Strafrahmen so. Das muss man akzeptieren. Das Urteil hat sich aber ja im oberen Drittel der Strafandrohung bewegt.

 

Wenn ein Urteil nicht hilft, wie werden Menschen dann mit einem Schicksalsschlag fertig?

Ratay: Menschlich muss man damit irgendwie fertig werden. Das Leben geht weiter. Da ist es irrelevant, wie das Urteil ausgefallen ist. Alle Tage müssen Angehörige oder Opfer feststellen, dass sie ein Kind weniger oder eine Behinderung haben, die auf dieses Ereignis zurückzuführen ist. Und letztlich hat man im Hinterkopf: Es ist die Schuld eines Täters, der grob fahrlässig gehandelt hat.

 

Die Fragen stellte

Verena Belzer.