Ingolstadt
Ein hausgemachtes Problem

Wie eine Ingolstädter Behinderteneinrichtung wegen organisatorischer Mängel ins Rampenlicht geriet

21.06.2017 | Stand 02.12.2020, 17:54 Uhr

Mangelnde Kommunikation im Ingolstädter Hollerhaus führte jetzt zu schweren Vorwürfen wegen angeblicher Missstände. - Foto: Richter

Ingolstadt (DK) Missstände in der Pflege - immer wieder gibt es solche Vorwürfe. Nun ist das Hollerhaus in Ingolstadt als Behinderteneinrichtung in die Kritik geraten. Im Beitrag eines Privatsenders ist von "gravierenden Zwischenfällen" die Rede. Die Behörden sehen jedoch keine grundsätzlichen Mängel.

Zum Hollerhaus unter dem Dach des Vereins für körper- und mehrfachbehinderte Menschen gehören eine Förderstätte, ein dreigruppiges Wohnheim und der Bereich "Offene Hilfen". Im Wohnheim arbeiten rund 80 Kräfte, um 24 Behinderte rund um die Uhr zu betreuen. Keine leichte Aufgabe. Eben dort sollen grobe Missstände herrschen, hatte es diese Woche in einem RTL-Fernsehbeitrag geheißen.

Da war die Rede von Unterbesetzung, weil eine einzige Kraft in der Frühschicht für "bis zu sechs Personen mit körperlicher und geistiger Behinderung zuständig" sei. Wegen der angespannten Lage sei es bereits zu Aggressionen unter Bewohnern gekommen. Die Pfleger hätten sogar Türen und Zugänge versperrt, um die Situation unter Kontrolle zu bekommen. "Ein Bewohner ertrank mutmaßlich, weil eine Pflegerin ihn in der Badewanne unbeaufsichtigt gelassen hatte", hieß es weiter.

Fakt ist, dass tatsächlich Angriffe eines Heimbewohners auf andere stattgefunden haben. "Es gibt einen jungen Mann mit autoaggressivem Verhalten in einer der Gruppen", sagt Reinhard Mußemann, Geschäftsführer im Hollerhaus. Zu den Betreuten gehörten eben auch Menschen mit Verhaltensbesonderheiten. "Leider soll er andere gebissen haben." Fünf oder sechs Vorfälle seien bekannt. Mußemann räumt weiter ein, dass das Personal mitunter Zimmertüren mit Rollstühlen oder Gehwagen verstellt hatte, um andere vor ihm zu schützen. Solche "freiheitsentziehenden Maßnahmen" seien unzulässig gewesen. "Das hat zu personellen Konsequenzen geführt." Die eine oder andere Kraft sei überfordert gewesen und versetzt worden. "Aber die große Mehrheit leistet engagierte Arbeit und ist mit ganzem Herzen dabei", versteht er die Vorwürfe nicht.

Ein 40 Jahre alter Bewohner hatte durch die Beißattacke eine deutliche Verletzung davongetragen. Seine Mutter war nach eigenem Bekunden aber erst Tage später von dem Vorfall informiert worden. "Ich habe meinen Sohn danach wochenlang zu mir nach Hause mitgenommen, weil ich Angst hatte, es könnte wieder passieren", sagt die 62-Jährige. Und sie wollte Antworten darauf, wie das hatte passieren können. Doch die bekam sie nicht, sagt sie. "Weder die Heimleiterin noch der Geschäftsführer oder der Vereinsvorsitzende haben reagiert."

Die Mutter des 40-Jährigen gab indes nicht auf. Immer wieder hakte sie nach, am Ende bekam die ganze Sache eine Eigendynamik und endete über Dritte bei dem Privatsender. Das Hollerhaus bundesweit am Pranger - "das habe ich nicht gewollt. Aber es hat mir einfach keiner zugehört", sagt die Ingolstädterin. Erst jetzt konnte sie einen Erfolg verbuchen: Die zuständige Stelle beim Bezirk Oberbayern nahm sich kürzlich ihres Anliegens an, ebenso ein Mitarbeiter der Heimaufsicht bei der Stadt Ingolstadt. "Sie haben sich Zeit für mich genommen und mir geglaubt!" Das ist der 62-Jährigen ganz wichtig.

Die Behörden hatten das Hollerhaus auf die Beschwerden hin gründlich in Augenschein genommen. Generell, so heißt es bei der Heimaufsicht der Stadt, seien dort "keine Defizite in der gesamten Einrichtung festzustellen". Allerdings habe man in Teilbereichen organisatorische Mängel erkannt. "In diesem Zusammenhang hat das Haus bereits weitergehende Maßnahmen ergriffen", bestätigt Stadtsprecher Michael Klarner entsprechende Aussagen von Geschäftsführer Mußemann. Die personelle Ausstattung werde noch geprüft. Laut Mußemann soll sie "voll und ganz" den Vorgaben entsprechen.

Die Verantwortlichen im Hollerhaus müssen sich freilich den Vorwurf der fehlenden Kommunikation gefallen lassen. Hätte die 62-Jährige mit ihren Sorgen Gehör gefunden, wäre der Fall wohl kaum eskaliert. Versäumnisse sieht auch der Münchner Pflegeexperte Claus Fussek, seit 2016 mit dieser Sache befasst: "Die Leitung hätte erkennen müssen, dass einige Kräfte überfordert waren. Und sie hätte die Ängste der Frau ernst nehmen müssen. Ich finde es bemerkenswert, wie sie für ihren Sohn gekämpft hat!" Solche Versäumnisse seien im Pflegebereich leider häufig zu finden, bedauert Fussek.

Was den Tod eines Bewohners in der Badewanne betrifft, steht das juristische Verfahren kurz vor dem Abschluss. Ein grobes Verschulden der Pflegekraft scheint aber nicht vorzuliegen, sie hatte den Mann wegen eines Hilferufs aus einem anderen Zimmer kurz aus den Augen gelassen. Sie erhielt einen Strafbefehl, gegen den sie Widerspruch einlegte. Eine abschließende Entscheidung des Gerichts steht kurz bevor.