Ingolstadt
Kein berauschender Start

Cannabisbezug auf Rezept ist seit gut zwei Monaten möglich, doch die Umsetzung in der Praxis läuft noch zäh

23.05.2017 | Stand 02.12.2020, 18:04 Uhr

Die Wirkstoffe von Hanfpflanzen lassen sich außer als Tee auch in Tropfenform einnehmen. - Fotos: Imago, Thinkstock

Ingolstadt (DK) Cannabis ist kein Wundermittel, aber es kann Kranken bei bestimmten Symptomen helfen. Seit gut zwei Monaten darf es auf Rezept bezogen werden. In der Praxis müssen sich die Modalitäten aber erst noch einspielen. Einfach mal schnell ein paar Gramm beim Apotheker abholen, geht nicht.

Am 10. März war ein Gesetz in Kraft getreten, wonach Schwerkranke Cannabis (griechisch für Hanf) bei medizinischer Indikation über eine ärztliche Verschreibung direkt in der Apotheke erhalten. Die Hauptwirkstoffe der Pflanze, Tetrahydrocannabinol und Cannabidiol, können - als Tee getrunken oder per Verdampfer inhaliert - entzündungshemmend, schmerzlindernd, Angst lösend, entkrampfend, gegen Übelkeit und appetitanregend wirken. Mit Betonung auf "können", im Einzelfall muss es nicht so sein.

"Wer vorher Cannabis auf Rezept wollte, hat eine Sondergenehmigung der Bundesopiumstelle benötigt", sagt Christian Pacher, Sprecher der Ingolstädter Apotheker. "Man hat das nur bekommen, wenn alle anderen Therapien nicht mehr angesprochen haben." Nur gut 600 Menschen bundesweit erhielten 2016 eine solche Erlaubnis. "Die Apotheken mussten ebenfalls eine Sondergenehmigung beantragen, wenn sie einen solchen Kunden hatten. Man sieht, wie restriktiv das bisher geregelt war."

Dann ging es sehr schnell. Vielleicht zu schnell. "Wir waren alle überrascht, wie rasch das in Gesetzesform gegossen wurde. Nicht nur die Ärzteschaft war verunsichert, auch bei meinen Kollegen tauchten mit der Neuregelung viele Fragen auf", sagt Apotheker Pacher. Die einschlägigen Verbände lieferten zwar umgehend Informationen zum Umgang mit dem Thema Cannabis auf Rezept nach. "Aber in der Praxis lief es in den ersten zwei Monaten zäh", berichtet Pacher. Viele der behandelnden Ärzte hätten abwartend reagiert, "manche sind ablehnend". Denn die Verschreibung müsse haarklein dokumentiert werden.

Patienten können zudem nicht einfach beim Hausarzt auftauchen und ein Cannabis-Rezept verlangen. Die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns schreibt vor, dass "vor der erstmaligen Verordnung eines Cannabispräparats der Patient die Genehmigung seiner Krankenkasse einholen" müsse. "Eine Ablehnung ist nur in begründeten Ausnahmefällen möglich. Über die Anträge soll innerhalb von drei bis fünf Wochen entschieden werden." Eine Verschreibung sei unter anderem möglich, wenn allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen nicht zur Verfügung stehen oder wenn es "eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht" auf spürbare Verbesserungen bezüglich Krankheitsverlauf oder schwerwiegender Symptome gibt.

Die Abläufe zwischen Arzt, Apotheke und Patient funktionieren inzwischen meist, auch wenn es weiter Mediziner gibt, die Cannabis selbst bei vorliegender Indikation nicht verschreiben. Die Krankenkassen sträuben sich mitunter ebenfalls, ist verschiedentlich zu hören. Ähnlich musste es kürzlich eine 79-jährige Ingolstädterin erfahren. Die Frau leidet an schwerem Rheuma, herkömmliche Mittel verträgt sie nicht. Sie ließ sich "als letzte Hoffnung" Cannabis verschreiben. "Die Kasse hat mir am Telefon gesagt, sie würde das nicht erstatten. Ich habe das Rezept trotzdem eingereicht, sie haben das Geld dann doch überwiesen. Vor ein paar Tagen ist ein Brief gekommen, dass sie das nicht bezahlen. Da weiß einer wahrscheinlich nicht, was der andere tut. Ich ignoriere das Schreiben einfach", sagt die resolute 79-Jährige.

Die erhoffte Wirkung der Hanfblüten ist bei der rheumageplagten Ingolstädterin bisher ausgeblieben. Einziger, aber unerwünschter Effekt: "Das Cannabis hat mich völlig weggehaut, obwohl ich mich da exakt an die Dosierung halte." Im Moment pausiert sie. Andere schwören jedoch auf ihren Hanftee, wie ein 49-jähriger Krebspatient aus dem Kreis Eichstätt erklärt. "Ich esse wieder mit mehr Appetit und fühle mich innerlich ruhiger."

Die Audi-BKK begrüßt das neue Gesetz als "weitere Therapieoption", will - wie etwa in der Palliativversorgung - unbürokratisch helfen, aber auch zweimal hinschauen, wo Interpretationsspielraum besteht. Die AOK Bayern antwortete nicht.