Ingolstadt
Gefährliches Gefälle

Experte warnt vor Risiken für Rollstuhlfahrer und Eltern mit Kinderwagen am Bahnhof Ingolstadt Nord

11.08.2016 | Stand 02.12.2020, 19:26 Uhr

Bahnhof Ingolstadt-Nord: Schilder warnen Fahrgäste vor dem starken Gefälle. Bei einem Versuch rollte ein Kinderwagen trotz Sicherheitsvorkehrungen von selbst in Richtung Gleis. - Foto: Hauser/ Wikireal

Ingolstadt/Berlin (DK) Was haben der Nordbahnhof Ingolstadt und der geplante Bahnhof Stuttgart 21 gemeinsam? Gleise und Bahnsteige mit einem außergewöhnlich starken Gefälle. Experten erkennen darin eine Gefahr für Fahrgäste. Für die Deutsche Bahn hingegen ist die Sicherheit gewährleistet.

Mit dem Bahnhof Ingolstadt- Nord hat es eine besondere Bewandtnis: Beim Bau der neuen ICE-Strecke Richtung Nürnberg standen die Planer vor dem Problem, dass es gleich nach dem Bahnhof ziemlich steil bergab geht - in den Tunnel unter dem Audi-Werksgelände. Doch eine Verlegung des Nordbahnhofs kam aus Kostengründen nicht infrage.

Also entschied die Bahn, den nördlichen Teil der Bahnsteige mit einem Gefälle in die Rampenabfahrt Richtung Tunnelportal zu verlegen. Die Bahnsteige haben dadurch eine Längsneigung von in der Spitze fast 20 Promille. Das bedeutet: Auf 1000 Meter Länge besteht ein Gefälle von 20 Metern. Eine gefährliche Situation, insbesondere für Fahrgäste im Rollstuhl oder mit Kinderwagen.

Einen vergleichbaren Gefällewert gibt es an keinem anderen deutschen Bahnhof - und er ist eigentlich auch nicht zulässig. Denn laut Eisenbahnbau- und Betriebsordnung (EBO) soll das Gefälle an Bahnsteiggleisen den Wert von 2,5 Promille nicht überschreiten. Soll, wohlgemerkt. Anders als heute durfte dieser Grenzwert bis 1967 nicht überschritten werden.

Um die Sicherheit der Fahrgäste am Nordbahnhof, wo täglich rund 20 Regionalzüge halten, dennoch zu gewährleisten, wurden in Abstimmung mit der Aufsichtsbehörde, dem Eisenbahn-Bundesamt (EBA), bauliche Maßnahmen geplant. "Damit ist die Längsneigung regelkonform", heißt es aus der Bahn-Pressestelle München auf Anfrage unserer Zeitung. Ins Auge fallen zuerst die Warnschilder am Bahnsteig, die auf die Längsneigung hinweisen. Außerdem gibt es einen rutschhemmenden Bodenbelag sowie Bodenschwellen. "Diese Bodenschwellen", so die DB-Pressestelle, "sorgen im Zusammenhang mit einer Querneigung der Bahnsteige vom Gleis weg dafür, dass rollende Gegenstände in Richtung Rampenwand gelenkt werden." Damit sei, so argumentiert die Bahn, "eine gleichwertige Sicherheit wie bei einem ebenen Bahnsteig" gewährleistet.

Dem widerspricht Christoph Engelhardt vehement. Der Physiker aus Garching ist Gründer des Faktencheckportals Wikireal und war einer der Experten, die heuer bei einer öffentlichen Anhörung des Bundesverkehrsausschusses zu Wort kamen. Anlass war ein Antrag der Linken, die Sicherheitsbestimmungen mit Blick auf Stuttgart 21 zu verschärfen. Bei dem umstrittenen Großprojekt sind Neigungswerte von rund 15 Promille geplant.

Physiker Engelhardt stellte nicht nur eigene Berechnungen an, die zu einem anderen Ergebnis als die der Deutschen Bahn führen. Er machte auch den Praxistest in Ingolstadt- Nord und drehte einen Film, der sogar im ZDF-Politikmagazin Frontal 21 zu sehen war. Er zeigt: Nur leicht in Richtung Gleis gedreht, rollt ein beladener Kinderwagen trotz aller Sicherheitsvorkehrungen auf dem Bahnsteig von selbst in Richtung Gleisbett. Und zwar an einer Stelle, wo die Gleisneigung nur 10 Promille beträgt. "Als Bürger bin ich entrüstet, dass eine Sicherheit behauptet wird, die in der Praxis nicht gegeben ist. Hier hat sich die Deutsche Bahn kräftig verrechnet. Kein Wunder, dass sie ihre physikalischen Risikountersuchungen, die diese Sicherheit belegen sollen, nicht veröffentlichen will."

Nicht nur Engelhardt fordert deshalb eine Rückkehr zur strikt horizontalen Auslegung von Bahnhofsanlagen. Die bis 1967 gültige Obergrenze für das Gefälle von 2,5 Promille müsse wiederhergestellt werden. "Gefällewerte wie in Ingolstadt sind auch international ohne Vergleich und werfen die Frage auf, inwieweit in Deutschland andere technisch-wissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten gelten. Sogar in Bangladesch sind die Bestimmungen strenger."

Engelhardt warnt vor den Risiken, denn menschliche Fehler oder technische Ausfälle seien nicht vermeidbar. Er verweist auf das Beispiel Köln: Am dortigen Hauptbahnhof kam es auf den Gleisen 4 bis 8 mit einem Gefälle von nur 3,68 Promille bei mindestens 21 Wegrollvorgängen seit 2010 zu acht Verletzten. "Bei deutlich größeren Gefällewerten wie in Stuttgart 21 oder in Ingolstadt-Nord können diese Ereignisse leicht katastrophale Folgen haben."

Die Bahn sieht es anders und teilt mit, seit Inbetriebnahme des Bahnhofs Ingolstadt-Nord im Jahr 2006 wären keine Unfälle bekanntgeworden, die auf die Neigungsverhältnisse zurückzuführen seien. In der Stellungnahme heißt es weiter: "In der Statistik der Deutschen Bahn sind in den vergangenen zehn Jahren für alle 11 000 Bahnsteigkanten im DB-Netz insgesamt acht Zwischenfälle mit leeren Kinderwagen, einem Rollstuhl und einem Bierfass bekannt. In allen Fällen wurde die Regelkonformität und Betriebssicherheit der Infrastruktur bestätigt. In nur einem Fall kam ein Reisender leicht zu Schaden."

Merkwürdig nur, dass dem Verkehrsausschuss allein vier Unfälle mit Rollstühlen bekannt wurden: 2005 in Potsdam Griebnitzsee, 2011 in Düsseldorf-Wehrhahn sowie 2014 an den Hauptbahnhöfen Hannover und Osnabrück. Dennoch hat der Verkehrsausschuss kürzlich beschlossen, den Antrag der Linken abzulehnen - ungeachtet der Bedenken der Experten.