Weißenburg
Hinab ins 143-Meter-Loch

14.09.2017 | Stand 02.12.2020, 17:30 Uhr

Um den Bauunterhalt der kompletten Festung kümmert sich Thomas Brechenmacher von der Stadt Weißenburg.

Weißenburg (DK) Es rankt sich so manche Legende um den Ende des 16. Jahrhunderts in den Fels getriebenen Brunnen auf der Hohenzollernfestung Wülzburg bei Weißenburg. Fest steht: Es ist der tiefste Bayerns.

Eine ungemeine Faszination geht von dem Bauwerk aus, das scheinbar einen endlosen Weg in die Tiefe weist. Dank eines raffinierten Beleuchtungskonzepts werden (fast) dessen ganze Ausmaße deutlich. So mancher Besucher mag da wohl an die eine oder andere Schauergeschichte denken. Unliebsame Zeitgenossen wurden in alten Zeiten ja gerne mal in solchen Untiefen versenkt. Heutzutage bewahrt natürlich ein Gitter davor, dass Menschen in eine tödliche Falle geraten.

Außerdem winkt Thomas Brechenmacher ab. Er ist Bautechniker der Stadt und unter anderem für den Unterhalt der Festung - die seit Ende des 19. Jahrhunderts fast gänzlich in ihrem Besitz ist - samt Brunnen beauftragt. Es sei nichts gefunden worden, was auf derartige Horrorszenarien hindeute: keine menschlichen Skelette oder Teile davon. Dafür ist schon manches tief unten gelandet, was dort ebenso überhaupt nicht hingehört. In einer Vitrine sind einige dieser Gegenstände zu sehen - eine verbeulte Kamera ist auch dabei. Glasflaschen oder das, was von ihnen übrig blieb, bilden den Klassiker. Aber auch Munition und Matratze sowie ein amerikanischer Stahlhelm wurden hier schon geborgen. Wer immer hier was unbeabsichtigt oder freiwillig entsorgt hat (was freilich verboten ist), musste lange auf den Platscher warten, der das Ankommen des Gegenstandes verriet. Denn es geht tief hinunter, richtig tief. Insgesamt sind es genau 143,12 Meter.

Lange Zeit wurde der Brunnen auf der Wülzburg auch als der tiefste geführt, der in einer deutschen Festung zu finden ist. Doch Nachmessungen ergaben, dass dies nicht gehalten werden kann. Schlichte Umrechnungsfehler der einst verschiedenen Maßeinheiten wie Elle und Schuh hatten auf die falsche Fährte geführt. In Bayern ist man aber immer noch die Nummer eins!

Doch solche Zahlenspiele spielen keine Rolle, wenn Brechenmacher zu Kontrollzwecken sich bis ganz nach unten wagt. Dreimal hat er die Reise erst angetreten, "mit einem durchaus gemischten Gefühl", sagt der Bautechniker. Doch als solcher "verlasse ich mich da ganz auf die Technik". Es sei aber durchaus beeindruckend, wenn beim Hinuntergelassenwerden die Brunnenöffnung immer kleiner werde und sie schließlich bloß noch als ein kleiner heller Punkt ganz oben leuchtet - wie ein einzelner Stern in dunkler Nacht. Da überkommt auch den nüchternen Fachmann ein kleines bisschen Ehrfurcht. Vor allem, wenn ihm gewahr wird, dass es hier nicht nur durch verschiedene Gesteinsschichten und -arten, sondern auch "durch ein paar Millionen Jahre Erdgeschichte nach unten geht". Beklemmungen bekommt er aber keine. "Man kann ja nicht herunterfallen", sagt er verschmitzt, "höchstens vielleicht nicht mehr nach oben kommen." Irgendwo weit oben wäre es Brechenmacher deutlich unwohler: Auf einem einsamen Obelisken, der genauso hoch ist wie der Brunnen tief, brächte man ihn wohl nicht. Zum Vergleich: Der weltgrößte Obelisk, das Washington Monument, ist nur um knapp 30 Meter länger, als der Wülzburg-Brunnen Richtung Erdinneres reicht.

Besonders dicke Kleidung oder gar Sauerstoffgeräte braucht es übrigens nicht bei der Reise nach unten. Denn die Temperatur liegt in der Tiefe wie beim Einstieg konstant bei etwa sieben bis acht Grad. Die Kaminwirkung wirkt sich zudem auf den ganzen Raum aus, in dem der Brunnen sich befindet - im Sommer ist es also angenehm kühl und im Winter nicht gar so kalt. Die Luftumwälzung klappt wunderbar, auch über die große Distanz. Die Sauerstoffwerte sind auch am tiefsten Punkt sehr gut, die Feinstaubwerte ein Traum: "Für Allergiker sehr gut geeignet", scherzt Brechenmacher.

Der Weg dorthin ist, was nicht verwundern braucht, auch nicht kerzengerade. "Da ist eine leichte Banane drin", verweist er im Fußballerjargon auf die kleine Biegung. Dennoch reicht der Blick von ganz oben bis ganz nach unten, wenngleich mit künstlichem Licht nachgeholfen werden muss. Wird es bei Führungen (Mai bis Oktober) eingeschaltet, bleibt der große "Aha"-Effekt nicht aus. Denn die sechs in Dreiergruppen angeordneten LED-Strahler sind gleichmäßig entlang des Brunnens verteilt und werden im Fünf-Sekunden-Rhythmus nacheinander zum Leuchten gebracht. So kann das Auge des Betrachters virtuell und stufenweise hinunterreisen. "So lässt sich die Tiefe sehr gut demonstrieren, da sind die Gäste immer sehr erstaunt," so Brechenmacher.

Und es gibt noch einen akustischen Clou: Ganz unten ist ein Mikrofon eingebaut, das die Geräusche des gluckernden Sickerwassers oben hörbar macht. "Musique concrete" vom Feinsten. Vielleicht findet sich ja mal ein Musiker, der das Plätschern aus der Tiefe per Sample in seine Werke mit einfließen lassen will.

Für Beleuchtung wie Mikrofon gilt: Beide sollen nicht ersaufen. Deswegen schaut eine Denkmalpflegegruppe des hiesigen Alpenvereins regelmäßig nach dem Rechten und reguliert bei Bedarf die Pumpe. Insgesamt rund 800-mal waren die Kletterer schon in der Röhre unterwegs. Der Löwenanteil der Einsätze geschah dabei in den Jahren 2007 bis 2009 bei der großen Beräumung. 1475 Eimer mit je 50 Litern Aushub beförderte man nach oben. Das brauchte Zeit, viel Zeit. Denn eine Fahrt nach unten benötigt 20 Minuten, buchstäblich im Gegenzug tritt dabei ein volles Gefäß die Reise nach oben an.

Wofür heute die Elektromechanik sorgt, wurde früher durch Menschen bewerkstelligt, die via Laufrad und Kraftübertragung auf eine große Haspel für den Transport der Eimer sorgten, die damals mit 70 Liter Wasser gefüllt waren. Das Brunnenwasser alleine reichte nicht, um die autarke Wülzburgsiedlung zu versorgen, weswegen das Gelände mit zahlreichen Zisternen gesäumt war, die heute noch zu sehen sind. Dass es vom Brunnen aus mal einen Geheimgang bis nach Weißenburg gegeben haben soll, verweist Brechenmacher ins Reich der Legenden. Und falls doch, hätte man durch den Gang durchtauchen müssen, was auch heute der trainierteste Sportler nicht schaffen würde. ‹ŒDK