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"Der Tag war eine große Enttäuschung"

Nebenklägeranwalt Mehmet Daimagüler über die neuen Verzögerungen im NSU-Prozess

19.07.2017 | Stand 02.12.2020, 17:46 Uhr

Herr Daimagüler, beim NSU-Prozess in München sollten gestern eigentlich die Plädoyers beginnen. Angehörige von Opfern waren eigens angereist, und letztlich wurde alles noch einmal verschoben. Wie haben Sie den Tag im Gerichtssaal erlebt?

Mehmet Daimagüler: Mir tut es unendlich leid für die Angehörigen der Opfer. Viele haben alles stehen und liegen lassen, um nach München zu kommen. Ihre Hoffnung war, dabei zu sein und zu erfahren, wie der Staat den Stand des Verfahrens bewertet. Stattdessen sind sie Zeugen eines prozeduralen Hickhacks geworden, das niemanden weiterbringt und der Bedeutung des Verfahrens nicht gerecht wird. Der Tag war eine große Enttäuschung.

Was erwarten Sie konkret vom Plädoyer der Bundesanwaltschaft, das nun in der nächsten Woche beginnt?

Daimagüler: Die Bundesanwaltschaft wird bewerten, ob die Anklage zu Recht erhoben worden ist oder nicht. Ich gehe davon aus, dass sie es bejahen wird. Natürlich werden dabei noch einmal die Verhandlung und die Zeugenaussagen zur Tatbeteiligung insbesondere von Frau Zschäpe rekapituliert. Aber ich erhoffe mir mehr von dem Plädoyer der Bundesanwaltschaft.

Was denn?

Daimagüler: Sie sollte selbstkritisch auch Stellung dazu nehmen, was dieses Verfahren nicht geleistet hat. Die Rolle der Verfassungsschutzbehörden muss weiter beleuchtet werden. Das gesamte NSU-Umfeld war durchsetzt mit V-Leuten - trotzdem wollen die Behörden nicht gewusst haben, wo sich das Trio befunden hat. Das ist nicht überzeugend. Da muss die Bundesanwaltschaft einräumen: Es gibt mehr Fragezeichen am Ende des Verfahrens als am Anfang.

Und was ist mit der These, der NSU sei eine isolierte Zelle gewesen?

Daimagüler: Das hat die Bundesanwaltschaft sehr frühzeitig bereits behauptet. Aber es hat sich im Prozess als Trugschluss erwiesen. Es gab nicht nur vier Mitangeklagte, sondern auch 24 Zeuginnen und Zeugen, die zugegeben haben, dem Trio geholfen zu haben. Von einer isolierten Zelle kann da niemand mehr sprechen. Da wünsche ich mir eine Klarstellung. Der NSU war sehr viel größer. Wir können nicht ausschließen, dass es weitere Helfershelfer oder auch Mittäter gegeben hat, die vielleicht heute noch auf freiem Fuß sind.

Wie bewerten die Angehörigen den bisherigen Prozessverlauf?

Daimagüler: Warum ist ausgerechnet mein Mann, mein Vater, mein Bruder ermordet worden? Weshalb hat uns der Staat nicht geschützt? Das waren für die Familien die drängendsten Fragen. Sie haben darauf leider keine Antworten bekommen. Es hat institutionellen Rassismus gegeben. Viele der Angehörigen waren bei der Trauerfeier. Da hat die Bundeskanzlerin versprochen, alles zur Aufklärung zu tun. Stattdessen sind Akten geschreddert worden.

Beate Zschäpe hat sich erst spät im Prozess geäußert. Wie beurteilen Sie Ihre Rolle im Verfahren?

Daimagüler: Sie hat eine Erklärung verlesen lassen - mehr nicht. Das war die Reaktion darauf, dass sie schnell nach Beginn des Verfahrens vor dem Scherbenhaufen ihrer Verteidigung stand. Unterm Strich hat Frau Zschäpe zur Aufklärung nichts beigetragen. Ich denke, sie ist zu Recht als Mörderin angeklagt und wird wohl auch als solche verurteilt werden. ‹ŒDK

Das Interview führte Rasmus Buchsteiner, Foto: Kjer/dpa.